Reserven ans Licht!

AUS KARLSRUHECHRISTIAN RATH

„Die gesetzlichen Regelungen für Lebensversicherungen sind teilweise verfassungswidrig.“ Mit diesem Paukenschlag eröffnete gestern Hans-Jürgen Papier, der Präsident die Bundesverfassungsgerichts, die Urteilsverkündung in Karlsruhe. Der Grund für das harsche Urteil: Das geltende Recht schütze „die Belange der Versicherten“ nicht ausreichend. Bis Ende 2007 muss der Bundestag nun eine verbraucherfreundlichere Regelung finden.

Beim Abschluss einer Lebensversicherung garantiert die Assekuranz, dass am Ende der Laufzeit oder beim vorzeitigen Tod des Versicherten eine bestimmte Summe ausbezahlt wird. Außerdem hat der Versicherte Anspruch auf eine „Überschussbeteiligung“. Der Überschuss entsteht, weil sicherheitshalber überhöhte Prämien verlangt werden. Geht bei der Anlage der Gelder alles gut, erhält der Versicherte neben der garantierten Summe daher zusätzlich einen Betrag in ähnlicher Höhe.

Bisher werden bei der Überschussberechnung die stillen Reserven der Versicherung nicht mitberücksichtigt. Darin sieht das Verfassungsgericht eine Benachteiligung der Versicherten, immerhin würden die Reserven ja durch deren Einzahlungen gespeist. Von stillen Reserven spricht man, wenn der Buchwert und der Verkehrswert etwa einer Immobilie auseinander fallen. Nach deutschem Bilanzrecht wird nur der Buchwert veröffentlicht. Der Unterschied zum höheren Verkehrswert ist die „stille Reserve“. Wie hoch diese Reserven der Versicherer sind, kann niemand sagen, doch der Bund der Versicherten rechnet mit einigen hundert Millionen Euro.

Präzise hat das Gericht herausgearbeitet, warum die Versicherten im deutschen Recht bisher benachteiligt werden. Zwar prüft die Bundesaufsicht für Finanzdienstleistungen (Bafin) die Versicherungsunternehmen regelmäßig. Sie greift aber nur ein, wenn es zu echten Missständen kommt. Für eine „angemessene“ Beteiligung der Versicherten an den Überschüssen sorgt sie aber nicht. Und wenn ein Bürger vor Gericht zieht, um sein Recht einzuklagen, dann verweist dieses nur auf die staatliche Aufsicht.

Mit diesem Hin-und-Herschieben von Verantwortung muss künftig Schluss sein, entschied Karlsruhe. In allen drei Musterprozessen, die der Bund der Versicherten angestrengt hat, entschieden die Richter zugunsten der Bürger. Die Summen, um die gestritten wurde, waren dabei niedrig, zwischen 28 und 273 Euro. Da es in Deutschland aber rund 45 Millionen kapitalgedeckte Lebensversicherungsverträge gibt, geht es für die Unternehmen um sehr viel Geld.

Wie viel am Ende bei den Verbrauchern ankommt, kann niemand sagen. Der Bundestag hat bis Ende 2007 Zeit, die Rechtslage zu ändern. Er kann dabei an verschiedenen Stellschrauben drehen, weshalb die Richter gestern auf konkrete Vorgaben verzichtet haben. Möglich ist eine Verschärfung der Versicherungsaufsicht im Interesse der Kunden.

Zweitens könnten auch die Klagerechte der Versicherten verbessert werden, zum Beispiel indem die Unternehmen zu mehr Transparenz verpflichtet werden. Auch eine Änderung des Bilanzrechts, die das Aufdecken von stillen Reserven generell erzwingt, könnte helfen. Als vierte Möglichkeit könnte der Gesetzgeber den Wettbewerb zwischen den Versicherungen verschärfen, indem der Wechsel von einem zum anderen Anbieter erleichtert wird.

Natürlich kann der Bundestag die verschiedenen Ansätze auch verbinden. Die Richter ließen keine Vorlieben durchblicken. Für sie ist entscheidend, dass der Staat seinen „Schutzpflichten“ überhaupt nachkommt. Die Bundesregierung kündigte an, sie werde den Auftrag aus Karlsruhe in die ohnehin geplante Reform des Versicherungsvertragsrechts einfließen lassen.