berliner szenen: Nachts von Ameisen träumen
Haltestellen, Gesichter. Der Busfahrer ließ türkische Musik laufen. Leidende Zahnschmerzgesänge, während wir durch kaputte Stadtlandschaften fuhren, an den Wiesen, den Grünflächen, den Backsteinbauten des vorletzten Jahrhunderts vorbei. Eine Studentin, die im Bus knapp hinter mir stand, drehte verträumt an ihrem Unterlippenpiercing, die Gesichtsmaske schützte ihren unsichtbaren Adamsapfel. Eine rotblonde Frau mit einem Notenschlüssel als Anhänger, der ihr vor der Brust baumelte. Eine Frau mit Rosenapplikationen auf den Sneakern. Eine Frau, die wahrscheinlich nie ungeschminkt aus dem Haus ging. Eine Körperhülle, die so schön war, dass sie hässlich gemacht werden musste. Sie sah, wie fast alle in diesem Bus, scheu auf ihr Handy. Der Bus ruckelte in mein Viertel hinein. Allmählich begann ich, mich wieder zu Hause zu fühlen. Der allgemeinen Lage und der speziellen zum Trotz. Ich meine, es war doch so: Die Leute kamen nicht aus sich heraus. Und die Hitze machte alles nur noch unbeweglicher. Haltestellen, Gesichter. In der Nacht hatte ich von Ameisen geträumt und wusste nicht, was das bedeuten sollte. Ameisen, die durch eine hellrote Lache wateten. Eine Ameisenstraße, die ins Nichts führte, schilderlos. Hatte das was mit einer analen Phase zu tun? Ich kannte mich nicht aus. Ich sah auf mein Telefon, das den Selbstmord eines mir bekannten, recht jungen Autors vermeldete. Ich kannte ihn nur flüchtig, sein Tod löste in mir kein Gefühl aus, höchstens einen dahingedachten Satz wie „Ein Konkurrent weniger“. Dann schämte ich mich und war schockiert. Schockiert über meine gefühlskalte Reaktion oder über den Tod des jungen Autors? Als der Bus stehen blieb, begann ein Kind zu quengeln: „Fährt nicht, fährt nicht!“ Klein wie eine Ameise. Oder war ich das am Ende selbst?René Hamann
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