Die steile These: Weihnachtsmärchen im Sommer
Der CSD ist für viele queere Menschen wie ein oft kritisiertes, aber geliebtes Familienritual. Dieses Jahr fallen fast alle Gay-Pride-Paraden aus. Fuck Covid!
M ag sein, dass die Glocken nie süßer klingen als zur Weihnachtszeit, doch genauso ließe sich behaupten: Satter die Beats nie wummern als zur CSD-Saison – und das auch noch im Hochsommer. Fällt aber dieses Jahr ins Wasser, nicht wegen Regen, sondern wegen Covid-19. Kein CSD? Das klingt wie: dieses Jahr kein Weihnachten. Also unmöglich. Wenn nicht Ostern schon flachgefallen wäre.
Viele Gay-Pride-Paraden, wenn auch nicht alle, wurden für dieses Jahr abgesagt oder verschoben. Und richtig ist, dass der Gay Pride für queere Menschen so etwas wie Weihnachten geworden ist: Ein alljährlich wiederkehrendes, womöglich ein wenig erstarrtes Familienritual, das immer schon da gewesen zu sein scheint.
Zu diesem Ritual gehört auch die jährliche geäußerte Kritik an der immer schlimmer werdenden „Kommerzialisierung“ des CSD, vergleichbar mit den alljährlich anbrandenden bischöflichen Pressemeldungen und Synodalbekundungen, die auf den wahren, religiösen Kern des Weihnachtsfests pochen und den weltlichen, glitzernden Tand vom Schoko-Nikolaus über den Weihnachtsmarkt bis zum Apple-Store-Gutschein unter dem Christbaum geißeln. Jedes Jahr.
So verhält es sich auch mit dem CSD: Unpolitisch sei er und kommerziell, wobei nicht immer klar ist, ob sich das mit dem Kommerz auf die Bratwurstbuden und Caipirinha-Stände oder auf die Trucks von Mercedes-Benz und Deutscher Bank bezieht: Die großen Companys dieser Welt haben das Prinzip „Diversity“ bereits seit vielen Jahren in ihre Unternehmenskultur eingepreist und verstanden, dass sich Vielfalt in ihrer Belegschaft am Ende positiv auf das Geschäftsergebnis auswirkt.
Giltter auf den Muskeln
Der Kapitalismus hat sich die Graswurzelbewegung einverleibt, und so sieht man nun eben auf den größeren Prides Angestellte, die nach dem Büro ins Fitnessstudio gehen und das auch mal zeigen wollen – auf dem Truck ihrer Company mitfahrend, Sekt trinkend, Give-aways in die Menge schleudernd. Man kann das nun schlimm finden, weil die großen Trucks die seriösen Aktivist:innen mit ihren liebevoll selbst gemalten Pappschildern verdecken, oder aber sich darüber freuen, dass die Zeiten, in denen sich queere Menschen im Büro à la „Mad Men“ unsichtbar machen mussten, für immer mehr Menschen schlicht und ergreifend vorbei sind.
Wo nun an Weihnachten Lametta ist, ist am Gay Pride der Glitter in allen Farben, den sich die Teilnehmenden in die Haare und auf die stramme Pectoralis-Muskulatur schmieren. Zum Ritual gehört, dass man diesen Glitter garantiert am Abend irgendwo auf seinem Körper wiederfindet wie Ostseesand im Schuh, auch wenn man niemandes Pectoralis-Muskulatur angefasst hat. Und so sicher wie das Amen in der Kirche ist die Sektflasche in der Hand, möglichst schon am späten Vormittag.
Warten aufs Christkind mit Rotkäppchen, zusammen mit dem Freundeskreis, so muss es sein. Die folgenden Stunden wird man nun damit verbringen, ständig irgendwo zu warten, weil jemand auf die Toilette muss oder Zigaretten kaufen oder ein Bier. Und schon hat man sich wieder verloren und der SPD-Truck mit der schlechten Musik hat einen zum dritten Mal überholt.
Als Pride und Love Parade verschmolzen
Ich kann mich auch noch genau an meinen allerersten CSD erinnern, in den Neunzigern in Berlin, als Pride und Love Parade verschmolzen und das Hinter-wummernden-Trucks-Herlaufen sich etablierte. Heilig war das für mich. So viele? Wir sind wirklich so viele? Das hat mir seinerzeit so eine Kraft gegeben, diese gemeinsame Kundgebung hatte auch etwas Tröstliches, war geeignet, über manche Verletzung ein wenig hinwegzuhelfen, Ängste zu nehmen. Erhebend war das; und etwas Leuchtendes ist geblieben, auch nach so vielen Jahren.
Großartig fand ich auch von Beginn an, wie international diese Veranstaltungen waren, wie überhaupt die ganze „Szene“, die einem plötzlich Anknüpfungspunkte auf der ganzen Welt ermöglichte. Ja, Gay Prides bieten Anlass zu Städtereisen, das haben die Tourismusministerien von Israel bis Östereich schon lange begriffen. Ja, Gay Prides sind auch so was wie die Christkindlmärkte des Sommers. Und auf beiden Events gibt es zu viel Alkohol.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
Wie soll man auch Familienfeste ohne Alkohol ertragen? Man verbringt Zeit mit Menschen, die man sich nicht ausgesucht hat. Ich kann schließlich nichts daran ändern, dass hier auch Richard Grenell oder Alice Weidel rumlaufen könnten. Da muss man sich schon manchmal Wodka in den Sekt gießen und viel Eis drauf. Das ist dann so, als ob man am Heiligen Abend lieber die dritte Flasche Rotwein aufmacht, als über die AfD zu diskutieren. Aber es gibt auch noch so viele andere Nervensägen in dieser Großfamilie, beileibe nicht nur Rechte.
Ja, manchmal hat man die Botschaft fast vergessen, die den Festivitäten zugrunde liegt. Die Geschichte mit dem Baby in Palästina und der Aufstand in New York. Wie war das jetzt noch mal mit der Empfängnis, und wer hat den ersten Stein in der Christopher Street geworfen? Und manchmal reicht es einem auch mit den Jingle Bells und den wummernden Trucks und den immer gleichen Bildern von Weihnachtsbäumen und schwitzenden Leibern in Fetischkostümen. Aber man macht trotzdem mit, weil es sich im Kern bei beiden Events um die Liebe dreht. Und um Verfolgungserlebnisse.
Weiß eigentlich jemand was Besseres? Und wo bleibt es?
Wenn das vermaledeite Fest dann ausfällt, guckt man aber doch blöd aus der Wäsche. Keine Bratwurst, kein Sekt, und „Lola’s Theme“ von den Shapeshifters quäkt nur aus dem Badezimmerradio anstatt aus 20.000-Watt-Boxen. Fuck Covid!
Zeit, sich zu besinnen
Immerhin hat man vielleicht einmal kurz Zeit, sich zu besinnen und an die zu denken, denen es noch immer verdammt schlecht ergeht aufgrund ihrer sexuellen Orientierung. Nicht nur in den Arabischen Emiraten, Iran oder Tschetschenien, sondern sogar nur gut 50 Kilometer entfernt von der deutschen Hauptstadt, in Polen. Einem Land, das sich zu nunmehr einem Drittel als „LGBT-freie Zone“ erklärt hat und in dem es keine Rechtsgleichheit für queere Menschen gibt, also weder eine Form der Zivilehe noch den Zugang zur Ehe.
Ein Land mit einem Staatspräsidenten, der in Bezug auf die Identitäten LGBTIQ von einer „Ideologie“ spricht, die „schlimmer als der Kommunismus“ sei. In einem solchen Land – wir sprechen von Europa – muss man sich wirklich Sorgen machen, wenn kein Gay Pride stattfinden kann. Auch wenn sich die Polen dieses Jahr mit einem digitalen Pride behelfen.
Ich muss an den gut aussehenden, sympathischen jungen Mann denken, der vor nicht allzu langer Zeit aus Polen nach Berlin gekommen ist. Er dachte, er könnte dem Mist, der in seiner Heimat abgeht, mit Sex und Drogen und dem Berliner Nachtleben entkommen. Stattdessen hat er einen kompletten Nervenzusammenbruch erlitten. Denn man kann leider nicht einfach in eine andere Stadt oder ein anderes Land gehen, und der ganze Wahnsinn ist vergessen.
Die Denke, dass man weniger oder gar nichts wert sei. Noch immer werden so viele junge Menschen traumatisiert, noch immer nehmen sich viel zu viele von ihnen das Leben, weil sie sich nicht vorstellen können, dass sie eine Perspektive haben könnten, dass es ihnen tatsächlich gelingen könnte, glücklich zu werden oder ein auch nur halbwegs zufriedenes Dasein zu fristen. Was ist schon Glück.
Es nützt also alles nichts, man muss das Weihnachtsmärchen immer wieder erzählen. Also: Es begab sich in den frühen Morgenstunden des 28. Juni im Jahr 1969 in der New Yorker Bar Stonewall...
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