berliner szenen
: Wenn Corona existiert

Samstagmittag im RE 3 in Richtung Gesundbrunnen. Wir sind auf dem Weg nach Hause. Zwei Wochen Ostsee liegen hinter uns. Unser Sohn kann jetzt Laufrad fahren und lernt sprechen, allerdings ohne Wort­anfänge. Statt Karotte sagt er „Otte“, statt Vanilleeis „nije­eis“, und im Urlaub brüllte er ständig „Atze! Atze!!!“ über die mecklenburgische Dorfstraße.

Es ist der erste Tag mit Temperaturen um die 30 Grad. Im Norden hatten wir selten an den 20 gekratzt, dafür frische Luft geatmet, frischen Fisch gegessen und waren sogar einmal kurz im „(gr)oßen (W)as­ser“ drin.

Wochenlang hatten wir gebangt, ob wir überhaupt fahren dürften. Ob sie uns über die Landesgrenze lassen würden. Und wieder einmal in den letzten drei Monaten ertappten wir uns bei einer Art Prä-89-Retro-Feeling.

An unserem ersten Tag im Urlaub traf ich einen alten Bekannten, der dort geboren wurde und bis heute dort lebt und arbeitet. „Auch wieder hier!“, rief er fröhlich und reichte mir die Hand zur Begrüßung. Ich war so perplex, dass ich einschlug. Und während er meinem Sohn die Wange tätschelte, hatte ich Visionen von Kolonialisten, die indigene Bevölkerungen mit Schnupfen ansteckten.

Die Fahrgäste im RE 3 werden von solchen Gedanken offensichtlich nicht gequält. Eine ältere Dame im Vierersitz trägt einen Schleier über der Nase, der ungefähr so viel Barriere ist wie der Gazefetzen, den Aschenputtel im Drei-Haselnüsse-Film auf dem Ball trägt. In Eberswalde steigt ein Trio junger Menschen mit Kleinkind zu. Die Masken hängen unter der Nase, der Schweiß rinnt aus den Achseln. „Wenn Corona wirklich existiert“, erklärt die Teeniemutter, und wir anderen Fahrgäste können kaum erwarten, wie der Satz zu Ende geht, „dann hatte ich das eh schon.“ Paul und ich sehen uns an und nicken. Merke: Der Osten ist unsterblich. Lea Streisand