Göttinger Atomgegner bespitzelt

Das niedersächsische Gesetz erlaubte es der Polizei, auch Gespräche einer ganzen Wohngemeinschaft abzuhören

HANNOVER taz ■ Der Göttinger Physikstudent Daniel H. war völlig baff, als er kürzlich Post von der Polizei erhielt. Die teilte dem 25-Jährigen mit, er sei vor dem Castor-Transport nach Gorleben im Herbst 2004 zwei Wochen lang beschattet worden. „Vor meiner Haustür standen Tag und Nacht Beamte“, erzählt H. Nachdem sein Anwalt Akteneinsicht beantragt hatte, kam der ganze Umfang der Schnüffelei heraus: Wie in einem schlechten Agentenfilm seien ihm die Bewacher „bis auf die Uni-Toilette“ gefolgt, um zu „beobachteten, ob ich mich dort mit jemandem traf.“ Abgehört wurde H.s Telefon insgesamt 82-mal – auch wenn seine WG-Mitbewohner telefonierten.

Die Ermittler handelten auf Grundlage der gestern vom Bundesverfassungsgericht (BVG) kassierten niedersächsischen Regelung zur vorbeugenden Telekommunikationsüberwachung. Seit In-Kraft-Treten des Gesetzes Anfang 2004 ist laut Innenministerium die Polizei in vier Fällen aktiv geworden, bei zwei präventiven Überwachungsmaßnahmen habe es sich um Personen „mit islamistischem Hintergrund“ gehandelt. Außerdem war die Spitzelei bei einem mutmaßlichen Anlagebetrüger und einem polnischen Motorradfahrer angedacht worden, der in einen Rockerkrieg verwickelt sein soll. Nur bei einem überwachten Einbrecher habe das Lauschen zur Festnahme geführt. Beim Göttinger Fall reichte den Beamten offenbar die Vermutung, H. sei ein militanter Castor-Gegner, um die Maßnahmen einzuleiten. Das Mitglied im örtlichen Anti-Atom-Plenum war wegen eines Strafverfahrens aktenkundig, das jedoch eingestellt worden war. Außerdem hatte er an der Erstellung eines Plakats für eine Anti-Atom-Party mitgewirkt.

Nachdem H. offenbar nahe der Castor-Strecke gesichtet worden war, setzten die Ermittler ihre Überwachungsmaschinerie in Gang. Dabei brachten die Spitzel sogar am Auto eines Bekannten Peilsender an. Als der Wagen 800 Meter von H.s Wohnung abgestellt worden war, stutzten die Bewacher. „Die Gründe für das entfernte Abstellen“ seien „unerklärlich, zumal im Bereich der Anschrift stets genügend Parkplätze zur Verfügung standen“, so das Observationsprotokoll. Aus dem Standort des Autos sei von „den Observationskräften die These abgeleitet“ worden, „dass dieser Pkw als Tatmittel für das Stoppen des Castor-Zuges genutzt werden könnte“. Nachdem die Polizei das Auto aus den Augen verloren hatte, bat sie am 7. November um 22.10 Uhr den Bundesgrenzschutz, nach H. per Helikopter mit einer Wärmebildkamera zu fahnden. H. bemerkte von all diesen Vorgängen nichts.

Die Ermittlungen gegen H. verliefen im Sand. Die zuständige Staatsanwaltschaft in Kassel stellte das Verfahren gegen ihn im vergangenen Dezember sang- und klanglos ein. H.s Anwalt Johannes Hentschel freute sich gestern über das Urteil der Bundesverfassungsrichter: Es sei „eine wichtige Entscheidung im Sinne des Grundrechtsschutzes für politisch engagierte Menschen“, so Hentschel.

Nach der Backpfeife aus Karlsruhe ging die zuständige niedersächsische Regierung zunächst auf Tauchstation – nach den kritischen Fragen der Richter bei der mündlichen BVG-Verhandlung im März hatte man wohl bereits ein negatives Urteil erwartet. Innenminister Uwe Schünemann (CDU), der sich gerne als Unions-Alternative zu Bayerns CSU-Rechtsaußen Kurt Beckstein sieht, ist auf Mallorca. Ministerpräsident Christian Wulff (CDU) werde ebenso keine Stellung zum Urteil nehmen, weil auch er im Urlaub sei, sagte eine Sprecherin. Als seine Vertreterin betonte am Nachmittag Justizministerin Elisabeth Heister-Neumann (CDU), dass das BVG keineswegs die präventive Telekommunikationsüberwachung generell zur Verhinderung von Straftaten verboten habe. Deshalb werde Niedersachsen nach Prüfung des Urteils eine Neufassung des Polizeigesetzes vorlegen. Darin würde die Verhinderung von Terror und organisierter Kriminalität weiter zum Katalog der Straftaten gehören, die man durch das vorbeugende Lauschen verhindern wolle.

KAI SCHÖNEBERG