Urteil gegen Regelungswut
: KOMMENTAR VON OTTO DIEDRICHS

Das Ritual ist in solchen Fällen immer das gleiche. „Ist Datenschutz Tatenschutz?“ Kaum hatte das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe gestern sein Urteil gegen eine vorbeugende Telefonüberwachung gefällt, drehte sich die Debatte wieder einmal um diese unsinnige Frage.

Dabei haben die Verfassungshüter die polizeiliche Überwachung des Fernmeldeverkehrs in Deutschland keineswegs aufgehoben; sie haben sie nicht einmal eingeschränkt. Für verfassungswidrig und damit nichtig haben die Richter lediglich jenen Passus erklärt, der den Ermittlern selbst die Entscheidung darüber überlässt, was sie als „Tatsachen“ ansehen wollen, die ihnen als Voraussetzung für eventuelle künftige „Straftaten von erheblicher Bedeutung“ gelten. Wohin diese Praxis führen kann, zeigt das Beispiel aus Niedersachsen. Ein Göttinger Student wurde abgehört, weil man von ihm erwartete, er könne beim Protest gegen einen Castor-Transport die Bahngleise blockieren. Eine Straftat von erheblicher Bedeutung? Falls diese Frage von findigen Juristen bejaht werden sollte, warum wurde dann nicht das gesamte Wendland abgehört, wo doch hinlänglich bekannt ist, dass sich nahezu die gesamte dortige Bevölkerung an solchen Aktionen beteiligt oder sich zumindest mit ihnen solidarisiert. Damit wäre sie umstandslos als „Kontaktpersonen“ einzuordnen, deren Überwachung nach dem Willen der Regierung in Hannover ebenfalls möglich gewesen wäre.

Gestoppt haben die Richter nun die Regelungswut der Gesetzgeber, die immer weiter in das so genannte Vorfeld zielt – um Verbrechen nicht nur ahnden, sondern gleich verhindern zu können. Dies ist nicht nur für Niedersachsen, sondern auch für andere Bundesländer, die ähnliche Regelungen planten, eine berechtigte Ohrfeige. Dass sie daraus lernen werden und einen Gang nach Karlsruhe künftig überflüssig machen, ist indes nicht zu erwarten. Davon zeugt schon der neueste Plan der EU-Innen- und -Justizminister, zur stärkeren Informationsgewinnung Telefon- und Internetdaten auch ohne konkreten Verdacht bis zu drei Jahre auf Vorrat zu speichern. In solchem Licht verdient die Entscheidung aus Karlsruhe die größte Anerkennung.