Unmöglicher Wachstum

SOMMERLOCHFESTIVAL Von Europa-Zerstörung und Krisen-Protesten: Das Sommerfestival auf Kampnagel in Hamburg präsentiert unter dem Motto „Grenzen des Wachstums“ bis Ende August jede Menge spannendes Theater, Tanz, Interventions-Kunst und Musik

Spannend wird es, wenn die zur Perfektion gezwungenen Akteure scheitern

VON ROBERT MATTHIES

Für viel Aufsehen hat der spanische Konzeptkünstler Santiago Sierra mit seinen Aktionen in den letzten 15 Jahre gesorgt. Er ließ Männer masturbieren, tätowierte sechs jungen Kubanern eine Linie auf den Rücken, färbte Immigranten die Haare blond – und bezahlte sie allesamt schlecht dafür. Auf der spanischen Seite der Straße von Gibraltar ließ er 2002 afrikanische Einwanderer Erdlöcher ausheben, mauerte im Jahr darauf den spanischen Pavillon auf der Biennale in Venedig zu und ließ nur Inhaber eines spanischen Passes in das leere Gebäude.

Auch in Deutschland hat der in Mexiko-Stadt lebende Künstler mit seinen gesellschaftskritischen Arbeiten schon für Furore gesorgt. 2005 füllte er die hannoversche Kestnergesellschaft mit Schlamm, um an die „Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen“ zur Aushebung des Maschsees Mitte der 1930er zu erinnern. Kritik brachte ihm 2006 seine Aktion „245 Kubikmeter“ ein, für die er Abgase von sechs Autos in die Synagoge in Stommeln leitete, um das „chronische und instrumentalisierte Schuldgefühl“ zu thematisieren. „Zu platt“, befand etwa Christoph Schlingensief: „Diese Aktion banalisiert die Aktionen, die Sierra vorher gemacht hat.“

Auch auf dem Sommerfestival, das heute zum fünften Mal – und zum letzten Mal mit Matthias von Hartz als Künstlerischem Leiter – in der Hamburger Kulturfabrik Kampnagel eröffnet wird, beschäftigt sich Sierra mit aktuellen sozialen, politischen und ökonomischen Verwerfungen: „The Hellenic Peninsula Devoured by Pigs“ ist der Auftakt zu einem seriellen Projekt zur Auflösung Europas. Zunächst wird die hellenische, im Anschluss daran die italienische und schließlich die iberische Halbinsel der Zerstörung preisgegeben. Zu sehen ist die Installation bis zum 25. August im Festivalzentrum.

Auch der Berliner Tino Sehgal, politischer Ökonom und Choreograf, interessiert sich in seinen Arbeiten für den Zusammenhang von sozialen und ökonomischen Prozessen und Rollenzuschreibungen, inszeniert undokumentierte Miniaturszenen mit ganz normalen Menschen, verwickelt Besucher seiner Installationen in Diskussionen über den Kapitalismus oder macht Laiendarsteller zu Museumswärtern – und verdient damit gutes Geld. „This is Exchange“ heißt seine Installation für das Sommerfestival, in der sich sechs Menschen in ein Gespräch vertiefen, begleitet von Gesten und Haltungen, die sich an Meisterwerke der Malereigeschichte anlehnen und den traditionellen musealen Kontext durch Interaktion mit dem Publikum auf die Probe stellen sollen.

Mit dem Thema Intervention und Kunst beschäftigen sich zwei weitere Projekte. Erneut zu Gast ist das von London in die Bretagne aufs Land ausgewanderte Laboratory of insurrectionary imagination, das unter dem Titel „What is enough“ eine Performance-Intervention in drei Akten präsentiert, die zwischen Brecht und Beckett, Living Theatre und Maschinensturm, utopischem Gelage und Rebellentrainingscamp oszilliert.

Das Künstler- und Aktivistenkollektiv Schwabinggrad Ballett wiederum, das vor kurzem in Athen die Proteste gegen die Sparpakete begleitet hat, schlägt auf dem Gelände die Zelte für einen „Platz der unbilligen Lösungen“ auf, zeigt unter anderem den Film „Catastroika“ und bietet Kurz-Teach-ins zur politischen Ökonomie der Euro-Krise von Karl-Heinz Roth und Leonidas Vatikiotis.

Mit der Krise in Griechenland beschäftigt sich auch das Berliner Kollektiv Rimini Protokoll, das mit seinem Stück „Prometheus in Athen“ zu Gast ist. Vor zwei Jahren haben die Dokumentartheatermacher 103 Athener Bürger im Amphitheater am Fuße der Akropolis gebeten, sich mit den Figuren des Prometheus-Stoffes zu identifizieren. Am nächsten Donnerstag und Freitag stehen fünf der damaligen Darsteller auf der Bühne und kommentieren eine Filmdokumentation des Theaterabends. Was empfinden die Griechen heute?

Neben der Kunst der Intervention und dem Theater haben auch Tanz und Musiktheater wieder einen festen Platz im Programm. Das Off-Off-Broadway-Ensemble Nature Theater of Oklahoma etwa zeigt die Fortsetzung seiner Serie „Life and Times“, dessen erste beiden Episoden letztes Jahr beim Live Art Festival zu sehen waren. 16 Stunden lang haben sie sich von ihrer Schauspielerin Kristin Worrall deren gesamte Lebensgeschichte am Telefon erzählen lassen: 34 Jahre live rekonstruiertes US-amerikanisches Durchschnittsleben. Am Donnerstag und Freitag in zwei Wochen erzählen, singen und tanzen die New Yorker nun Teil drei und vier der exakt transkribierten Übertragung ins Musical-Format zum ersten Mal in Deutschland. Spannend wird das, wenn die zur minutiösen Perfektion gezwungenen Akteure scheitern: dann werden die subtilen Brüche sichtbar, mit denen die künstlerische Aneignung des einzelnen Lebens zwangläufig einhergeht. Und aus dem inszenierten Menschen wird wieder der ganz reale mit all seinen Schwächen.

Auch ausgesuchte Musik gibt es dieses Jahr jede Menge zu hören. Längst ausverkauft ist natürlich das Konzert von Santigold, Karten gibt es noch für die deutsch-französischen Latin-Reggae-Rebellen Irie Révoltés, die Berliner Retro-Popper Gemma Ray und Salsa-Legende Eddi Palmieri.

■ Hamburg: Do, 9. 8. bis Sa, 25. 8., Kampnagel, Jarrestraße 20, www.kampnagel.de