Die Lücken sichtbar markieren

GESCHICHTE „Gedächtnis – Ein Film für Curt Bois und Bernhard Minetti“ von Bruno Ganz und Otto Sander wird in der Brotfabrik wiederaufgeführt

Am Anfang pfeift er drauf, ih- nen den Zeitzeugen zu machen. Curt Bois sitzt klein, alt und zart mit Otto Sander und Bruno Ganz in einem Restaurant hoch über dem Anhalter Bahnhof und wehrt mit hochgezogenen Brauen Fragen nach der Vergangenheit ab, ein bisschen empört über die ihm zugedachte Rolle. Dachten sich die zwei jünge- ren, beide 1941 geborenen Kollegen doch, ihn, der im Februar 1933 Berlin verließ, vom Anhalter Bahnhof aus, gerade hier zum Reden zu bringen über die Zeit des Nationalsozialismus und sein Exil. Mich wollt ihr fragen, mich, der ich fast zwan- zig Jahre lang in den USA war, sagt er so ungefähr; es geht viel im Geräusch der Kneipe unter. Aber dann hört man doch deutlich, „dass man überhaupt geboren wird, ist schon ein Jammer“.

Bruno Ganz und Otto Sander haben 1982 einen Dokumentarfilm gemacht über Curt Bois (1901–1991) und Bernhard Minetti (1905–1998). Es treten weiterhin auf: der Fußballspieler Fritz Walter, als Überraschungsgast für den bekennenden Fußballfan Minetti eingeladen; zusammen kramen sie in Erinnerungen bei einem Besuch im kalten und leeren Berliner Olympiastadion. Und Michelle, eine sehr langbeinige Dame im Negligé, die mit Curt Bois Champagner trinkt, über Jockeys und New Yorker Striptease-Künstlerinnen kundig redet. Michelle ist übrigens die einzige Frau in dem Film. „Wir wollten noch über die Frauen und über die Liebe reden und auch ein Gespräch zu viert machen, das kam aber nicht mehr zustande“, hört man die Filmemacher am Ende sagen. Aber gerade in der Unvollständigkeit liegt auch der Charme dieser Begegnung zwischen den vier Mimen.

Am Ende und am Anfang stehen Bilder einer Zugfahrt, eine räumliche Annäherung an Berlin, die Stadt, die entscheidend für die Karrieren von Bois und Minetti war. Das ist in einem grobkörnigen Schwarz-Weiß gedreht, das den Film „Gedächtnis“ noch viel älter als dreißig Jahre erscheinen lässt. Auch was von Westberlin gelegentlich sichtbar wird, scheint der Nachkriegszeit näher als der Gegenwart. Schon deshalb ist dieser Film eine schöne Zeitreise.

Bernhard Minetti empfängt die jüngeren Kollegen erfreut über ihr Interesse. Er redet bereitwillig über die Angst des Schauspielers und die Unsicherheit und wie beides zu einem Element der Gestaltung einer Rolle werden kann. Das ist Fachsimpeln auf höchstem Niveau. Er hat aber auch ein Geheimnis, über das zu reden Bruno Ganz und Otto Sander ihn auch nicht zwingen wollen: Das ist seine Karriere in der Zeit des Nationalsozialismus. Aber sie schaffen es, die Lücke sichtbar zu markieren. Eben auch durch die Gegenüberstellung der Gesprächsausschnitte.

Was habe er empfunden gegenüber den Kollegen, die in Deutschland geblieben sind, fragen sie Curt Bois, der 1950 aus dem amerikanischen Exil zurückkehrte. Nichts, nichts habe er empfinden dürfen, entgegnet er, sonst wäre seine Existenz hier gar nicht möglich gewesen. Und wieder liegt viel im Unausgesprochenen.

Aber es ist nicht nur die starke Durchdringung der Biografien der beiden alten Schauspieler mit der Geschichte, die die jüngeren interessiert, sondern natürlich auch deren ureigenster Stil. Curt Bois, der als Chansonnier und Komiker ein Star von Varieté, Kabarett, Operette und Film in Deutschland bis 1933 gewesen war, versucht Sander und Ganz eine komische Nummer beizubringen: Das Anziehen eines Mantels, das Verfehlen der Ärmel, das Kreiseln um sich selbst, bis er schließlich auf dem Boden liegend in den Mantel kriecht – und mit seinen achtzig Jahren noch immer ein Timing und eine Beweglichkeit hat, die dem Zuschauer den Atem nimmt.

Sander und Ganz bleiben immer etwas schüchtern und zurückhaltend in ihrer Rolle als Interviewer – und nicht zuletzt das macht den Film so sympathisch. Seine Wiederaufführung ist eine gute Idee von Jan Gympel, der „Gedächtnis“ im Rahmen einer Reihe „Berlin-Film-Katalog“ in der Brotfabrik vorstellt. Am kommenden Montag sogar in Anwesenheit von Otto Sander.

KATRIN BETTINA MÜLLER

■ „Gedächtnis – Ein Film für Curt Bois und Bernhard Minetti“. R: Otto Sander und Bruno Ganz. BRD 1982, 81 Minuten. 9.–15. August, 20 Uhr in der Brotfabrik