AM GERÄT
: Das Ross

über kühne Kerle in der Pferdebox

ANDREAS RÜTTENAUER

Frau Ohm hat Pausenaufsicht in dieser Woche. Nach den großen Ferien ist das einfach. Viele Problemschüler gibt es nicht auf ihrer Schule, und die Drogendealer brauchen ein paar Tage, bis sie gemerkt haben, dass ihre Kunden wieder in die Schule gehen. Die Kinder erzählen sich, wo sie in den Freien waren, oder beschreiben Urlaubsorte, in denen sie gern gewesen wären.

Frau Ohm hat eine Leidenschaft für Pferde und hat schon seit ihrer frühen Kindheit jede freie Stunde auf dem Reiterhof verbracht. Seit sie Studienrätin ist, leistet sie sich ein eigenes Ross und reitet mit ihrem White Diamond auch ab und zu ein regionales Turnier. Sie ist eine engagierte Lehrerin und bietet ihren Schülern in ihrer Freizeit Reitstunden an. Gerade hat sie wieder eine Liste ausgehängt, in der sich eintragen kann, wer Lust aufs Reiten hat. Vielleicht ist ja auch mal ein Junge dabei, hofft sie. Die Mädchen, die mitmachen, reiten doch sowieso, haben Pflegepferde in ihrem Reitklub.

Der kleine Mohammed hat so eine schöne Haltung, der würde sich ganz gut auf einem Pferderücken machen. Versonnen blickt sie zu den Jungs, die auf den Schulhof toben. Auch der Ahmed gäbe einen guten Reiter ab und würde sicher gut aussehen auf White Diamond. Sie fragt sich, warum es kaum Pferdebücher gibt, in denen Jungs die Hauptrolle spielen? Schon oft hat sie sich vorgenommen, ein solches mal zu schreiben. Die Reiterboys vom Buchenhof. Kühne Kerle in der Box. Starke Jungs am Hindernis. Titel fallen ihr viele ein. Nur welche Story soll sie erzählen?

Am Tag zuvor hat sie mitgelitten, als Desperados in London seinen Hüpfer tat. Es war ein irrer Wettbewerb. Die ganze Nacht hat sie davon geträumt, wie Mohammed und Ahmed auf dem Schulhof die deutsche Silbermedaille nachspielen. „Ich mach Traversale“, hat sie Ahmed sagen hören und Mohammed hat auf allen vieren eine Galopppirouette vorgeführt. Sind sie nicht süß, die beiden, hat sie sich im Schlaf gedacht.

Versonnen steht Frau Ohm am Schultor und würde am liebsten einfach weiterträumen. Sie sieht sich um. Wo sind ihre beiden Freunde? Ahmed und Mohammed toben, so wie sie es von den beiden kennt. „Ich bin Özil“, hört sie Ahmed sagen. „Und ich Messi“, schreit Mohammed. Frau Ohm schüttelt den Kopf. Die beiden werden sich auch dieses Jahr nicht in ihre Liste eintragen.