berliner szenen: Irgendwie mehr Irre unterwegs
Es ist Nacht und ziemlich kühl. Ich trage den Schal von der Freundin, die ich gerade besucht habe, und ziehe mehrere Ziegelsteine in ihrem ramponierten Einkaufstrolley hinter mir her. Der Trolley verliert ungünstigerweise immer ein Rad, das ich nach jedem Bordstein wieder anstecken muss. Ich ziehe den Wagen durch die dunklen Straßen, die Steine darin wackern über dem Kopfsteinpflaster vor sich hin und ich muss mehrmals kichern, weil die Situation etwas absurd ist.
Wenn mir Leute entgegenkommen, schauen sie auf den Boden, was ich merkwürdig finde, aber ich bin ja mit der Fuhre und dem Rad beschäftigt. Der Trolley ist mit acht Steinen leicht überfordert und bei jeder Unebenheit befürchte ich, er könnte zusammenbrechen.
Die Ziegelsteine brauche ich für meine Balkonterrasse. Ich will mir nämlich daraus und aus ein paar Steinplatten ein Kräuterregal bauen, und da die Freundin gerade eine Altbauwand eingerissen hat und ich mich nach Herzenslust bedienen durfte, wollte ich die Steine auch direkt mit nach Hause nehmen.
Eine Gruppe von Jugendlichen kommt mir entgegen. Sie halten Bierflaschen in der Hand und als ich ihnen näher komme, schauen auch sie wie auf Kommando auf den Boden. Kurz nachdem ich sie passiert habe, ruft einer: „Hallo, wollen Sie meine Flasche haben?“
Ich bleibe stehen, das Rad fällt ab, und während ich es aufstecke, schaue ich hoch und sage: „Wie bitte?“
„Meine Pfandflasche“, sagt der junge Mann und hält sie mir entgegen. Die anderen hinter ihm gucken auf ihre halbleeren Flaschen und dann wieder zu mir.
„Ach so“, sage ich, „nein, ich sammle keine Flaschen. Ich fahre nur Ziegelsteine durch die Gegend.“
„Okay“, sagt der Typ, und als sie weitergehen, meint ein anderer: „Irgendwie sind mehr Irre unterwegs als vor Corona, oder?“ Isobel Markus
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