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: Falsche Plakate und falsche Füsse

Die Pandemie produziert ikonografische Bilder. Die Frau mit dem Slip als Schutzmaske im Gesicht, antwortet auf den Typ mit der vollgepissten Jogginghose in Rostock-Lichtenhagen 1990. Die Bootsdemonstration für bzw. im Andenken an die Berliner Clubszene antwortet auf die Frau mit dem Slip. Zuvor hatte es einen nicht interessiert, ob jemand für oder gegen Impfungen war. Nun werden Freundschaften gekündigt wegen Bill Gates und Leute verkünden, Berlin verlassen zu wollen, wenn das so weiter geht.

Es waren glaube ich nicht nur die fehlenden Abstände oder der ungeeignete Ort vor dem Urban-Krankenhaus, die empörten, sondern auch die Branche, die Musik; die Vorstellung, dass die Teilnehmer sich amüsierten, am besten noch mit Feierdrogen, während man selbst sich sorgt und andernorts die Menschen sterben.

Vor allem das Plakat mit dem Satz „I can’t breathe“, das im Hintergrund am Ufer zu sehen war, schien obszön, auch wenn die Leute, die es mitgebracht hatten, vielleicht nur zufällig bei der Bootsdemo gewesen waren. Zuvor waren sie vermutlich bei der Veranstaltung für George Floyd gewesen. Angelockt von der Musik waren sie zum Ufer gekommen.

Dass sich die Veranstalter entschuldigten – „sorry für die rebellion der träumer zu pfingsten“, „we didn’t want to hurt your feelings“ stand auf dem Plakat, mit dem ein Boot ein paar Tage später durch den Kanal fuhr –, wird eher hämisch im Netz kommentiert.

Wenn ich die Coronalage mit M. jedes Wochenende erörtern will, hat er oft schon keine Lust mehr. „Wenn alle immer nur ­meckern, können wir so was wie Corona nicht mehr machen.“ Den Spruch hatte mir auch mein Vermieter geschickt.

Nächste Woche gibt es eine „Schreiben nach Corona“ betitelte Veranstaltung im Brechthaus, während die Pandemie in anderen Weltgegenden Fahrt aufnimmt.

Eigentlich ist M. der ruhende Pol im Freundeskreis, was allerdings auch daran liegt, dass er sich nicht gut bewegen kann und wenig Lust hat, Rollstuhl fahren zu üben. Er ist immer da. Ich eigentlich auch. Nur Samstags nicht, da bin ich bei ihm.

Am Montag klingelt um acht Uhr morgens das Telefon. Ich bin noch nicht so ganz wach, M. ist am Apparat, das heißt, er ist nicht am Apparat, sondern nur sein Name auf meinem Display. Im Hintergrund hört man Stimmengewirr mit bisschen Hall. Es ist aber nichts zu verstehen, so lege ich wieder auf und geh erst mal ins Badezimmer, mich frisch zu machen. Hoffentlich ist nichts passiert.

Den halben Tag versuche ich ihn vergeblich zu erreichen, stelle mir vor, dass er im Krankenhaus ist und dass ich ihn angesteckt habe. Als ich ihn am Samstag besucht hatte, hatte ich in ein Taschentuch gehustet und es achtlos in seine Mülltüte geworfen. Unruhiger werdend seh ich das Taschentuch und die große Mülltüte, die am Türgriff der Küche hängt, noch genau vor meinem inneren Auge.

Gegen Abend ruft er zurück. Er wäre bei seiner Ärztin gewesen. Sie hätte gesagt, sein Fuß sei schon fast wieder verheilt. Sein Telefon hatte mich wohl wieder selbständig angerufen. Das passiert mir öfter.

Die Tage gehen vorbei. Manchmal ruft K. an, um zu fragen, wo M. ist. Sie versuche ihn schon seit zwei Tagen anzurufen und sei in Sorge. Ich sage, dass er wahrscheinlich gerade im Bett oder Badezimmer gewesen war oder sein Handy verlegt hatte. Am Samstag sehen wir uns wieder. Während sie sich mit Körperkontakt verabschieden will, bestehe ich noch auf Distanz.

Zwei Wochen später ruft er mich am frühen Nachmittag mit tonloser Stimme an. Er wäre gerade bei seiner Ärztin gewesen. Der Fuß muss nun doch ganz sicher amputiert werden. Aber ich dachte, der Fuß wäre wieder okay. – Das war der andere. Detlef Kuhlbrodt