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: Jeder guckt für sich allein

Mit den Spielkameraden kicken würde ich zwar gern mal wieder, aber Fernsehfußball vermisse ich erstaunlich wenig. Für die Konferenzübertragung der Geisterspiele gilt das eigentlich erst recht. Schnell siegt jedoch die Neugier, was mich wohl erwarten wird: Übergewichtige und während der Zwangsspielpause erschreckend gealterte Spieler, die schnaufend über einen ungemähten Platz und ihre langen Bärte stolpern? Die keinen Ball mehr stoppen können und sich wie in der F-Jugend alle direkt um das Spielgerät herum verteilen? Aus der Vogelperspektive wirken sie wie Pantoffeltierchen, die sich im ideal essigsauren Bereich einer Mikroskopierlösung konzentrieren. Erschöpft bleiben sie stehen. Die Schnürsenkel sind offen. Manche weinen. Ein bisschen also wie Werder Bremen bereits vor der Coronakrise.

Dafür verzichte ich sogar auf den Besuch der Antispinnerdemo. Immerhin eint beide Alternativvorhaben der wenig konstruktive Wunsch, meine Vorurteile bestätigt zu sehen.

Die Spieler wirken dann aber doch ganz kregel. Ich hingegen werde nach wenigen Minuten sehr müde. Passend dazu hat man im Augsburger Stadion riesige Schlafzimmergardinen über die leeren Ränge gehängt. Die Kommentatoren tun mir leid. Sie müssen wach bleiben, sonst bekommen sie kein Geld. Wenigstens faken sie keine unangebrachte Begeisterung. Hier ist nämlich gar nichts spannend. Zur Zerstreuung gebe ich „Bussard“ und „Pinscher“ ein und forsche auf Youtube nach Clips, auf denen einheimische Greifvögel kleine Schoßhunde verschleppen, werde aber leider nicht fündig.

Zurück zum Sport. Nach über einer halben Stunde steht es auf allen Plätzen noch immer null zu null. Mein Gaumen vermeint das fade Aroma von salzarm gedünstetem Blumenkohl zu schmecken: Not gegen Elend, Düsselborn gegen Wolfsgurk, es ist der für den Samstag um 15.30 Uhr übliche Volkssturm der Spiel­ansetzungen, die Holzklasse, die Brosamen vom Tische des Bezahlfernsehens.

Seit meiner Kindheit ziehe ich mir jedes Wochenende zusammen mit Abermillionen anderer Lemminge den drögen Mist rein – ein unhinterfragter Automatismus, ähnlich wie Scheißen, nur mit Augen statt Arsch und Fernseher statt Klo und vor allem deutlich weniger dringend. Denn endlich führen mir die Geisterspiele klar vor Augen, was ich mir nie eingestehen wollte: Was mich selbst schon lange nicht mehr richtig interessiert, guckt nun tatsächlich keiner mehr. Der Kaiser ist nackt, sein Pimmel ist klein, und jeder stirbt für sich allein.

Ich wache auf: Plötzlich fallen ja doch die ersten Tore, im Ruhrderby, dem einzigen Leckerli des Nachmittags, auf das sich die Leute sicher jahrelang gefreut haben. Heißa, heißa, hoppsassa. Die Spieler jubeln, ohne Anfassen und schön mit Abstand, wie es sich gehört; „hygienisch einwandfrei“, lobt auch der Reporter. Im Grunde freuen sie sich gar nicht, ich ebenfalls nicht, niemand freut sich, worüber denn auch: über ein leeres Tor in einem leeren Stadion? Es ist doch eh alles egal.

Das merkt man schon allein daran, dass sogar Hertha trifft – der Beweis dafür, dass diejenigen Teams, die schon vor Corona an vereinzelt durchs nahezu leere Rund hallende Rufe gewöhnt waren, hier jetzt einen großen Wettbewerbsvorteil besitzen.

„Wenn es so bleibt, sind sie an Schalke vorbei“, sagt der Kommentator, und man fragt sich mit ersterbender Moral, wer wann wo vorbei ist, vor allem aber wozu. Nachdem ich in den vergangenen zwei Monaten meist noch relativ guten Mutes war, macht sich angesichts dieser Demonstration des Sinnentleerten nun doch fast so etwas wie Lebensüberdruss breit. Uli Hannemann