Das war unsere Befreiung

Auf diesen und den folgenden Seiten berichten Zeitzeugen, wie sie das Ende des Kriegs erlebt haben. Es sind Soldaten der Alliierten, befreite Verfolgte und junge Deutsche. So unterschiedlich sie diesen Tag erlebten: Für alle hat er sich in ihr Gedächtnis eingebrannt

Walter Frankenstein, versteckt
: Befreit in der Berliner U-Bahn

Überlebte als Jude zwei Jahre untergetaucht: Walter Frankenstein Foto: Karsten Thielker

Wir, also meine Frau Leonie und unser Kind Uri, waren seit Februar 1943 auf der Flucht vor den Nazis und lebten untergetaucht in Leipzig, Berlin und Brandenburg, aber nicht immer gemeinsam. Im September 1944 wurde unser Sohn Michael unter falschem Nachnamen geboren.

Den April 45 verbrachten wir vier zunächst illegal in einer Wohnung in Berlin-Kreuzberg, die uns eine Prostituierte überlassen hatte. Dann setzte der sowjetische Artilleriebeschuss ein und es wurde dort zu unsicher. Eines Nachts schlichen wir uns in den Bunker der U-Bahn am Kottbusser Tor ein. Da stand ein zweistöckiges Holzbett. Ich schlief oben, Leonie unten, die Kinder lagen davor auf Strohsäcken. Zu Essen gab es so gut wie nichts, aber glücklicherweise hatten wir Wasser dabei. Von draußen hörte man Maschinengewehrfeuer. Der Bunker war voller Frauen und Kinder. Dann kamen SS-Männer, die den Bunker unter Wasser setzen wollten. Es gezieme sich nicht für deutsche Frauen und Kinder, dem Feind lebend in die Hände zu fallen, sagten sie. Die Frauen redeten so lange auf die SS-Männer ein, bis sie schließlich abzogen.

Nach fünf Tagen, am 28. April 1945, kam ein russischer Soldat mit einer Maschinenpistole im Anschlag. Ich bin aus dem Bett und ihm um den Hals gefallen vor Freude – der hätte mich glatt erschießen können. Ein russischer Offizier verlangte danach, dass ich das jüdische Glaubensbekenntnis auf Hebräisch spreche, um zu beweisen, dass wir wirklich Juden sind. Danach brachten sie uns in die Markthalle, wo ein sowjetischer Befehlsstand untergebracht war. Sie gaben mir ein großes Wasserglas voll mit Wodka, oben drauf lag eine Scheibe Brot. Gedanken an die Zukunft hatte ich an diesem Tag keine mehr. Ich war ja gleich vollkommen besoffen. Walter Frankenstein

Walter Frankenstein, geboren 1924 im westpreußischen Flatow, emigrierte nach dem Krieg mit seiner Familie zunächst nach Palästina bzw. Israel, später weiter nach Schweden. Er arbeitete zunächst als Maurer, später nach einem Studium als Ingenieur.

Aufgezeichnet von Klaus Hillenbrand

Herbert Haberberg, an der Front
: „Endlich die Deutschen bekämpfen!“

Aus ­Deutschland geflüchtet: Herbert Haberberg Foto: privat

Ich wurde 1924 in Lünen-Brambauer bei Dortmund geboren. Bereits in der Schule erfuhr ich Demütigungen von Seiten eines antisemitischen Lehrers. 1938, am Tag nach meinem 14. Geburtstag, wurde dann mein Vater nach Polen deportiert. Etwa ein Jahr später kamen mein Bruder und ich mit einem Kindertransport nach England, wo wir voneinander getrennt von Pflegeeltern aufgenommen wurden.

Ich wollte nichts sehnlicher, als in die britische Armee aufgenommen werden, um gegen Deutsche zu kämpfen. Ich vermutete schon damals, dass meine Eltern ermordet worden waren, ich wusste es aber noch nicht. Viele Jahre später erfuhr ich, dass mein Vater in einem Wald erschossen wurde und meine Mutter vergast worden war.

1944 war es schließlich so weit: Ich konnte mich der jüdischen Brigade in der britischen Armee anschließen. Es ging nach Neapel und von Bologna an die Front. Ich hatte noch nicht einmal die militärische Grundausbildung abgeschlossen. Doch wir hatten alle mehr oder weniger schlimme Erfahrungen hinter uns und waren deshalb sehr stark motiviert. Wir bemerkten das Kriegsende im Grunde nur, weil sich die Deutschen auf einmal schnell zurückzogen. Über die Kapitulation erfuhren wir dann später aus dem Radio und aus Zeitungen.

Die Niederlage Deutschlands hob unsere Stimmung, und so saßen wir alle beieinander und sangen zur Feier hebräische Lieder. Wir sprachen über die Zukunft. Was auch immer wir für Rachegefühle hatten, so mussten wir diese doch unterdrücken, da wir britischem Recht unterstanden, auch als wir auf junge SS-Soldaten in Gefangenschaft stießen.

Als wir nach dem Krieg in Tarvisio stationiert waren, halfen wir dabei, ohne Erlaubnis jüdische Überlebende aus Osteuropa zu evakuieren. Ich verbrachte meine restliche Armeezeit im Norden Deutschlands. Ein Militärpfarrer hatte die Idee, dass ich mit den Überlebenden der DP-Camps Bergen-Belsen sprechen sollte. Die Menschen wussten nicht wohin und niemand wollte ihnen helfen. Über mein Netzwerk jüdischer Brigardisten erfuhr ich von Wegen, nach Palästina auszureisen, und ich ermunterte die Überlebende dazu.

Einmal fragte mich eine Deutsche, wann denn diese Untermenschen endlich aus der Gegend verschwinden würden. Ich riet ihr zu einem Blick in den Spiegel, da würde sie sehen, wie ein Untermensch aussehe.

Herbert Haberberg

Herbert Haberberg, Jahrgang 1924, kehrte nach dem Krieg nach London zurück und arbeitete im Ost-West-Handel. Er heiratete und bekam drei Kinder. Aufgezeichnet von Daniel Zylbersztajn.

Eric Axam, britischer Soldat
: Den 8. Mai im Graben verbracht

An der Festnahme der Regierung Dönitz beteiligt: Eric Axam Foto: privat

Ich war 1945 19 Jahre alt. Mein Einsatz in der elften Infanterieeinheit des britischen Militärs war meine erste Reise überhaupt über die Grenzen Londons hinaus. Ich landete im September 1944 in Belgien. Mein Job war es, in deutsches Feindgebiet einzudringen und das Gebiet für den Rest der Einheit abzusichern. Wir sollten gegen jeglichen Widerstand vorgehen. Wir waren in einem Alter, wo wir Befehlen gehorchten und taten, was notwendig war.

Schon vor dem Ende des Krieges gab es Unterhandlungen zwischen deutschen Truppen und uns, bei denen den Deutschen kurze Zeiträume zur Räumung eines Gebiets gegeben wurde. Wir waren danach die Ersten, die dann in diese Gebiete vordrangen. Kurz vor Kriegsende erinnere ich mich an das Vorbeikommen am KZ Bergen-Belsen, obwohl ich damals keine Ahnung hatte, was sich dort abgespielt hatte. Das Camp unterstand Quarantäneauflagen aufgrund von Typhus und die Insassen durften nicht raus. Sie bettelten uns vom Stacheldraht aus an, hinausgelassen zu werden.

In der Nacht vor dem 8. Mai versammelten wir uns, um mit unseren Panzern tiefer nach Deutschland einzudringen. Dafür trugen wir unsere gesamte Kampfausrüstung. Dann teilte uns ein Offizier mit, erst einmal vor Ort zu verharren, weil es irgendwelche Verhandlungen mit den Deutschen gebe. Wir haben uns dann in Gräben gebuddelt, um in deren Sicherheit ein bisschen zu schlafen, so machten wir das normalerweise. Doch als wir am Morgen aufwachten, gab es keinen Befehl zum Weiterdringen mehr. Stattdessen wurden wir in ein Stadtzentrum gefahren, es mag Lübeck gewesen sein, wo wir ein paar Häuser von Deutschen für unserer Unterkunft sicherstellten. Ich erinnere mich, wie manche der deutschen Bewohner danach in den Gärten herumstanden.

In den Tagen danach durchkämmte meine Einheit weitere ländliche Gebiete. Als wir auf einem Bauernhof in einem Kuhstall im Stroh übernachten, dankten uns die deutschen Bewohner für die Befreiung.

Am 8. Mai hatten wir nicht unseren letzten Einsatz. Es war meine Einheit, die am 23. Mai die Regierung Dönitz in Flensburg auf dem Schiff „Patria“ verhaftete. Einige von uns, auch ich, nahmen dabei Silberbesteck von Bord des Luxusschiffes als Souvenir mit. Als unsere Vorgesetzten davon erfuhren, mussten wir alles wieder aushändigen. Eric Axam

Eric Axam, geboren 1926 in London, arbeitete nach dem Krieg als Elektriker. Er heiratete und bekam drei Kinder.

Aufgezeichnet von Daniel Zylbersztajn

Claus Günther, Hitlerjunge
: Das Ende der Angst

Auf Kinderland­verschickung in Bayern: der Hamburger Claus Günther Foto: Miguel Ferraz

Stell dir vor, der Krieg ist aus, und du weißt das nicht. Du hast keine Zeitung, kein Radio, kein Telefon und keine Post von zu Hause. Du bist 14 Jahre alt. Ein Pimpf, ein Hitlerjunge. Aber das ist jetzt vorbei, alles. Der Krieg ist zu Ende.

Du bist in Bayern, in der Kinderlandverschickung. Aber die ist jetzt auch vorbei. Nur nach Hause kannst du nicht. Mein Zuhause in Harburg existiert nicht mehr. Ausgebombt am 25. Oktober. Mein Zimmer, meine Bücher, meine Spielsachen, mein Zeug: zerstört, verbrannt. Als wir am 1. Mai 1944 in die Kinderlandverschickung abfuhren, nach Tschechien, meine Klassenkameraden und ich samt Lehrkräften, da war noch alles heil. Zweimal sind wir dann vor dem Feind geflüchtet. Jetzt, am 11. Mai 1945, sitzen wir mit unserem Lehrer in Windberg am Waldesrand. „Der Krieg ist zu Ende“, berichtet er mit belegter Stimme. „Deutschland hat am 8. Mai bedingungslos kapituliert.“ Er spricht vom mörderischen Kampf, vom heldenhaften, vergeblichen Ringen unseres Volkes – „und jetzt dies schreckliche Ende, der Krieg verloren, abermals“.

Ich bin erleichtert, dass Schluss ist mit dem HJ-Dienst. Aber ich weiß kaum noch, wie man Menschen grüßt, wenn man nicht mehr „Heil Hitler!“ sagt und den rechten Arm dabei hebt. An die „Wunderwaffen“ habe ich nicht mehr geglaubt, ebenso wenig wie an die Behauptung, Adolf Hitler sei „in Berlin für Deutschland gefallen, an vorderster Front bis zum letzten Atemzug gegen den Bolschewismus kämpfend“. Am 20. April, seinem Geburtstag, war er noch groß gewürdigt worden; als er zehn Tage später tot war, hat hier niemand mehr um ihn getrauert. Sic transit gloria Nazis.

Am 26. April hatten die Amis das Dorf kampflos eingenommen. Wir Jungs fanden im Bach Munition, zündelten mit dem Schwarzpulver. Das sprach sich herum. Wir wurden verdächtigt, starrten in entsicherte MP – und hatten doch kaum Angst. Ausgangssperre? Na ja. Aber wann fahren wir nach Hause?

Es dauerte bis zum 7. August. Am 11. August kamen wir in Harburg an – nach über 15 Monaten Kinderlandverschickung. Claus Günther

Claus Günther, geboren 1931, wurde nach dem Krieg Schriftsetzer, Druckerei­kaufmann, Korrektor, Werbetexter und Journalist. Er heiratete und bekam eine Tochter.

Ljudmila Kotscherzhyna, verschleppt aus der Ukraine
: „Diese völlige Stille“

Sah die Hinrichtungen der Nazis: Ljudmila Kotscherzhyna Foto: privat

Ja, ich kann mich noch an das Ende des Krieges erinnern. Es war Frühling in Schwäbisch Hall. Die Natur ergrünte. Es war der 17. April 1945. Lange haben sie gebombt. Ich hörte die Bomben, die auf dem Bahnhof von Schwäbisch Hall niedergingen. Alle waren vor den Bomben irgendwo in Sicherheit gegangen.

Und dann auf einmal herrschte völlige Ruhe. Absolute Stille. Nichts. Ich habe vorsichtig aus dem Fenster geschaut und überall habe ich an den Fenstern weiße Betttücher heraushängen gesehen. Und dann rollten die amerikanischen Panzer in die Stadt, langsam – und immer noch war es ganz ruhig.

Wir haben sofort begriffen, dass das Kriegsende ist. Und zum ersten Mal in meinem Leben habe ich Schwarze gesehen. Schwarze Soldaten waren auf den Panzern. Und nun gingen die Deutschen auf die Straße. Und sie haben die Amerikaner sehr wohlwollend begrüßt. Und gleichzeitig herrschte dabei eine unglaubliche Ruhe.

Doch immer wenn ich an diesen Tag zurückdenke, schiebt sich ein anderes Ereignis dieses Frühlings in den Vordergrund, das kurz davor stattgefunden hatte: Zwei ganz junge deutsche Soldaten, die desertiert waren, hatten sie an den Bäumen an einer Straße in Schwäbisch Hall aufgehängt. Ich höre noch die Leute sagen: „Was soll denn das? Es ist doch fast schon Kriegsende und ihr hängt Jungs auf!“ Diese Faschisten, ganz junge Männer haben sie aufgehängt. Ich habe das als Neunjährige gesehen und ich werde dieses Bild immer in meinem Kopf behalten.

Ljudmila Kotscherzhyna

Ljudmila ­Kotscherzhyna, geboren 1936, war im September 1943 zusammen mit ihrer Tante nach Deutschland verschleppt worden. Nach dem Krieg kehrte sie in ihre Heimat zurück, heiratete und arbeitete als Ingenieurin. Aufgezeichnet von Bernhard Clasen

Nikolaj Kurilenko, Rotarmist
: „Abends hörten wir Musik und tanzten“

Nahm an der Befreiung von Auschwitz teil: Nikolaj Kurilenko Foto: privat

An den 9. Mai 1945 kann ich mich noch gut erinnern. Wir waren damals gerade in Prag eingetroffen. Die Bevölkerung hatte uns sehr herzlich empfangen. Die Menschen sind zu unseren Fahrzeugen gekommen, haben unsere Uniformen berührt. Abends hörten wir Musik und tanzten. Und ich habe den Krieg Revue passieren lassen. Zwei Ereignisse haben sich besonders tief in meiner Seele eingeprägt:

Dass ich nicht mit Hass auf die Deutschen als 16-Jähriger an die Front kam, liegt an einer Begebenheit, die ich während der deutschen Besatzung erlebte. Ein Polizist der Feldgendarmerie, er hieß Kreusel, hatte zunächst meine Mutter erschießen wollen. Doch als er sah, dass sie sieben Kinder hatte, hat er von seinem Vorhaben abgelassen, griff sich statt dessen drei ukrainische Männer von der Straße. „Schieß“, befahl er einem deutschen Soldaten, der ihn begleitet hatte. Doch der deutsche Soldat begann zu weinen und weigerte sich, auf die Männer zu schießen. Da zog Kreusel selbst die Pistole und tötete die Männer mit Genickschüssen.

Ein weiterer Tag, der mich nicht mehr loslässt, ist die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. Ich hatte gehofft, dort meinen Bruder zu finden. Seit seiner Verschleppung nach Deutschland hatte ich nichts mehr von ihm gehört. Während die anderen Soldaten meiner Einheit das Lager befreit hatten, hatte ich im Auto zurückbleiben müssen, weil ich noch so jung war.

Aber ich habe gesehen, wie die ehemaligen Gefangenen und die ehemaligen Aufseher, jetzt selbst Gefangene, herausgekommen sind. Die Gefangenen waren so dürr, nur Haut war auf ihren Knochen, sie trugen gestreifte Kleidung. Einige von ihnen warfen mit Steinen auf die gefangenen Aufseher und schrien: „Bringt sie um, bringt sie um!“ Ja, sie waren verzweifelt, weil sie am Leben waren, viele andere aber nicht mehr. Mit einigen der Befreiten habe ich gesprochen. Die ehemaligen Gefangenen erzählten mir schreckliche Dinge, sprachen von Tausenden, die umgebracht worden sind, vergiftet, ertränkt. Und sogar die Medizin hat man gegen sie eingesetzt, schreckliche Dinge. Aber keiner hatte meinen Bruder gesehen.

Erst nach dem Krieg traf ich meinen Bruder wieder. Nikolaj Kurilenko

Nikolaj Kurilenko ist 92 Jahre alt. Nach dem Krieg heiratete er und bekam drei Kinder. Er arbeitete bei der U-Bahn in Kiew.

Aufgezeichnet von Bernhard Clasen

Jack Rindt, kanadischer Soldat
: „Ich hatte sie umgebracht“

Kämpfte in Italien und den Niederlanden gegen die Wehrmacht: Jack Rindt Foto: privat

Ich war Oberleutnant und kommandierte ein Artillerieregiment der 11. Kanadischen Armee. Wir unterstützten die alliierten Truppen bei den Kämpfen in Italien in den Jahren 1943 und 1944. Dieser Teil des Krieges war äußerst blutig und brutal. Wir kämpften in einem Meer von Schlamm gegen verschiedene deutsche Panzerdivisionen in ihren schweren italienischen Abwehrstellungen, besonders rund um Monte Cassino.

Für uns in Uniform war es eine stressige Zeit, aber wenn ich zurückdenke, dann war es für die italienischen Zivilisten noch viel schlimmer – ihre Häuser und Bauernhöfe wurden zerstört. Familienmitglieder wurden getötet und verletzt. Ihre Leben wurden zerstört.

Krieg ist eine böse Sache – an einem Tag auf dem Schlachtfeld brachte ich Feinde um und am nächsten rückten Gefangene ein und ich begriff, dass sie Jungs genauso wie meine Jungs waren, mit ihren Familien zu Hause. Und ich hatte sie umgebracht.

Am 1. Mai 1945 erfuhren wir vom Tod Hitlers, zufällig war das mein Geburtstag. Am 5. Mai kämpften wir in den Niederlanden, als ich die Nachricht vom Waffenstillstand erhielt. Das bedeutete, dass alles endlich vorbei war. Das werde ich niemals vergessen. Wir feierten danach und ich machte mich später auf den Weg zurück. Jack Rhindt

Jack Rindt, Jahrgang 1920, arbeite nach dem Krieg im Versicherungswesen. Er heiratete und bekam mehrere Kinder. In diesem Winter gewann er im Alter von 99 Jahren bei einem Skirennen für Senioren den ersten Preis.

Aufgezeichnet von Scott Masters

Johns Lampel, als Kind im Getto Theresienstadt
: „Die Tafel Schokolade war wertvoller als Gold“

Überlebte mit der Mutter und den Großeltern: Johns Lampel Foto: privat

Ich war acht Jahre alt, als die Russen mich, meine Mutter und meine Großeltern in Theresienstadt befreiten. Ich erinnere mich noch genau an den russischen Offizier, der auf meine Mutter und mich zukam. Er muss Jude gewesen sein, denn er sprach meine Mutter auf Jiddisch an. Dann holte er eine Tafel Schokolade aus seinem Mantel und drückte sie mir in die Hand. Ich hatte in den letzten zwei Jahren kaum Essen gesehen, von Schokolade ganz zu schweigen. Es war, als hätte er mir einen Barren Gold gegeben.

Ein knappes Jahr zuvor, im Juni 1944, waren wir aus meiner Heimatstadt Szeged in Ungarn deportiert worden. Ich erinnere mich nur daran, dass ich neben meiner Mutter auf dem Boden eines Viehwaggons saß. Später erfuhr ich, dass die meisten Züge von Szeged nach Auschwitz gegangen sind, wir aber sind in ein Zwangsarbeiterlager gebracht worden, nach Groß-Siegharts in Österreich. Meine Mutter arbeitete dort als Zwangsarbeiterin für Siemens, ich war auf dem Dachboden der Fabrik eingesperrt. Im April 1945 wurden wir nach Theresienstadt deportiert.

Ich weiß noch, dass ich große Angst hatte, als die ersten Deutschen das Lager verließen und bei ihrer Flucht auf die Häuser schossen. Doch dann kamen die Russen. Sie rollten mit ihren Panzern die Zäune nieder und öffneten das Vorratslager der Wehrmacht: „In den nächsten 48 Stunden könnt ihr davon nehmen, was ihr wollt“, sagten sie. Ich war plötzlich frei, gemeinsam mit meiner Mutter und meinen Großeltern.

Mein größter Traum war damals, zurück nach Szeged zu kommen und meinen Vater wiederzusehen. Einer von uns war ein hochrangiger Angestellter der ungarischen Bahn. Er ging zum Bahnhof des nächsten Ortes und sagte, er bräuchte einen Waggon, um in Theresienstadt befreite Bahnarbeiter nach Hause zu bringen. Das mit den Bahnarbeitern war natürlich gelogen. Wir hängten den Waggon an einen Zug, der nach Prag fuhr, von dort an weitere Züge, bis wir schließlich Budapest erreichten. Vertreter der jüdischen Gemeinde empfingen uns. Sie schüttelten die Hand meines Großvaters. „Es ist ein Wunder“, sagten sie, „dass ein so kleiner Junge überleben konnte.“

Im Juni 1945 kehrten wir nach Szeged zurück. Ich war unsagbar glücklich. Ich bekam wieder etwas zu essen und spielte mit den Nachbarskindern im Garten. Nur mein Vater kehrte nicht zurück. Erst 1947 erfuhren wir, dass er als Zwangsarbeiter für die ungarische Armee an der russischen Front gestorben ist. Johns Lampel

Johns Lampel ist 83 Jahre alt. 1956 wanderte er aus Ungarn nach Israel aus und arbeitete dort in der Lagerverwaltung der israelischen Armee. Er ist verheiratet, hat zwei Söhne und lebt in Ramat Gan.

Aufgezeichnet von Judith Poppe