meinungsstark
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Liebe Nach-68er-Generation!

„Offener Brief an die 68er“, taz Leserbrief vom 29. 4. 20

Liebe Nach-68er-Generation, ihr erwartet jetzt also, dass wir 68er uns vehement gegen die jetzige Grundrechte-Unterdrückungsorgie wenden – mit der gleichen Verve, mit der wir damals zum Aufbrechen der gesellschaftlichen Verkrustungen gekämpft haben? Angebracht wäre es, angesichts der langen Liste an Zumutungen: Einschränkung der Bewegungsfreiheit, Entzug des sozialen Lebens, offen vor Augen liegender Niedergang der ökonomischen Lebensgrundlagen, hanebüchene Vorschläge und Vorschriften von ExpertInnen aus Funk und Fernsehen und Politik, die längst ihre Glaubwürdigkeit verloren haben ... Schon richtig, da muss man sich wehren.

„Die coolsten 70-Jährigen, die die Welt je gesehen hat“ – die waren damals 18 und nicht gerade die Speerspitze der Bewegung. Die 68er waren damals durchaus in der Minderheit und sind heute um die 80 oder unter dem Rasen. Wollt ihr denen jetzt die erforderlichen Kämpfe auferlegen? Da ist nicht mehr viel drin – schwer, sich unters Flatterband zu bücken, schwer, über eine Schranke zu klettern, geschweige zu springen.

Und die Medienskills der Digital Natives sind für viele Alte immer noch „Neuland“.

Also, liebe Nach-68er-Generation: Jetzt seid ihr dran! Glücklicherweise wacht ihr ja langsam auf (worauf wir 68er lange gehofft haben), nachdem ihr die letzten 10 Jahre das Selbst für das Alles gehalten habt. Auch heute sind Coronapartys keine politische Demonstration. Doch Hoffnungsträchtiges gibt es schon: Fridays for Future, Durchsetzen einer anonymen Tracing-App. And more to come. Seid wachsam und stark!

Herbert Schneider, Berlin

Ein Antiverschwörungsgedicht

Verschwöre dich gegen die zig alternativen Wahrheiten,

die auf Youtube und Telegram kursieren;

gegen pseudo-aufgeklärte Trolle und Hater,

die Eliten kategorisch bloße Zufälle zuschreiben.

Gegen Argumente und Fakten geimpft,

tummeln sich wütende Bots mit Hut

zahlreich zur digitalen Schnitzeljagd,

Widerspruch wird wild beschimpft.

Dagegen ist hier das neue Richtig;

unkritisch hinterfragt wird per se alles,

was rot-grün versifft oder jüdisch ist,

nur die eigene Meinung bleibt immer wichtig.

Was theoretisch nicht passt, wird dann mal abgeflacht;

Stars pauschal zu Missbrauchsopfern gemacht.

Rechts oder links, wen interessiert das schon,

Ausländer und Frauenrechte schüren Argwohn.

Scheiß auf Klimawandel und Coronakrise –

was die Welt braucht, sind Memes über Reptiloide!

Marleen Scheibe, Leipzig

Glücksgefühl! taz am Wochenende!

„Empörungsschaum reicht nicht“, „Ich tu, was ich will“, „Liebeserklärung: Das Homeoffice“, taz vom 2./3. 5. 20

Hallo taz, ich schreibe jetzt den zweiten Leserbrief innerhalb einer Viertelstunde. Die taz-Wochenendausgabe löste wahre Glücksgefühle in mir aus: zuerst der Text von Peter Unfried zum völlig überflüssigen Empörungsschaum, dann „Ich tu, was ich will“ von Peter Weissenburger, der mir als Boris-Palmer-Geschädigten aus der Seele spricht, und schließlich noch das Lob des Homeoffice von Saskia Hödl.

Es tut so gut, in diesem Chaos aus „Unsere Demokratie wird abgeschafft!“, „Hilfe, ich darf nicht mehr zu H&M und Fast Fashion kaufen“, „Oh Gott! Billigflieger bleiben am Boden“ und „Maske tragen – unmenschliche Zumutung!“ vernünftige, unideologische Meinungen zu hören. Vielleicht liegt es daran, dass ich als Sohn eines ehemaligen CSU-Gemeinderates mit einer Tochter eines SPD-Mannes zusammenlebe und wir irgendwann gemerkt haben, dass Schwarz-Weiß-Denken selten (oder nie) zielführend ist.

Ich lese jetzt weiter, verspreche aber, dass ich nicht noch mal schreibe, obwohl ich wahrscheinlich noch mal Lust dazu verspüren werde ... Jürgen Seipt-Wunderwald, Kutzenhausen