berliner szenen
: Der Krake der Stammgäste

Es ist kurz nach zehn und für eine Neuköllner Nacht erstaunlich still. Bei Sonnenuntergang hatten noch Pärchen an den Wasserwegen gestanden und einen Brückenrosé geschlotzt. Jetzt klaffen die verwaisten Ausgehmeilen wie lange, schwerheilende Schnittwunden in einen Himmel, in dem ich die Mondsichel suchen muss. Ich bin auf dem Heimweg. Von einer Tischtennispartie im 2. Hinterhof einer Wohngenossenschaft, in die eine Freundin gezogen ist. Gerade tropfte der Ball noch gediegen von meinem Racket ab, jetzt hoppele ich mit dem steifen Rennrad über Katzenkopfpflaster.

Ein Zwischenstopp an einem Späti in der Hermannstraße, an die ich per SMS beordert wurde – von Jo, den ich dort „zufällig“ treffe – und der, wie Jo versichert, im angebrochenen Virozän zu einer Ankerinstitution der Szene geworden sei. Gin und Żubrówka wechseln den Besitzer. Auf der bebankten Baumscheibe vor dem Laden feixen resiliente Stammgäste.

Jo wohnt ganz in der Nähe, er ist Professor und müsste einen Lehrstuhl in Oslo antreten – nur aktuell geht kein Flieger. Unser Blick streift über die Auslagen. Hab ich was verpasst, fragt Jo, herrschen hier jetzt niederländische Verhältnisse? Er zeigt auf vorgedrehte Joints neben dem Zahlteller.

Vor dem Späti schert eine Frau mit einer Gitarre aus einer vorbeiziehenden Gruppe aus und fragt einen der Stammgäste, ob er Feuer hat. Sie quatscht sich fest, eine Freundin will sie holen. Wir gehen jetzt, sagt sie. Bist du dir sicher, dass du bleiben willst? Von links legt sich ein Arm um die Gitarristin (dann einer von rechts), die schon längst die Saiten anschlägt. Dem Kraken der Stammgäste wird sie so schnell nicht entgehen, kommentiert Jo. Ich blicke neidisch auf die schnelle Beziehungsanbahnung, ganz ohne App.

Timo Berger