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Ein logistischer Albtraum

Die Deutsche Post ist ein weltweit führender Logistikkonzern, doch im Brief- und Paketversand für Privatkunden spart sie an Kosten und Verantwortung. Spätshops und Geschäfte übernehmen die Aufgaben, der Service leidet darunter

Von Pia Stendera (Text) und Aletta Lübbers (Illustrationen)

Auf der Scheibe des Geschäfts steht „Drinks and More“ und „Snacks and More“. Davor steht eine Menschenschlange von 20 Metern, dicht an dicht und regungslos auf dem regennassen Gehweg. Die bunten Glühbirnen der benachbarten Bar spiegeln sich auf den Wegplatten und tauchen die genervten Gesichter darüber in ihren warmen Schein. Es ist Freitagabend kurz nach sechs in Berlin-Kreuzberg.

Heute würde an diesem Bild irritieren, wie eng die Menschen beieinander stehen und dass die Bar beleuchtet ist. Ende vergangenen Jahres, wo diese Szene stattfindet, war es hingegen un­gewöhnlich, dass Menschen überhaupt auf der Straße anstehen müssen.

„Was’n los. Hausbesichtigung, oder was?“, fragt ein älterer Mann im Vorbeigehen. Doch die Menschen ersehnen nicht eine freie Wohnung, sondern etwas scheinbar ebenso schwer Erreichbares: die Post.

„Der arme Späti“, sagt eine junge Frau mit Pudelmütze zu ihrer Freundin. „Da musste für die Post anstehen“, sagt ein Passant. „Wir stehen so gut da wie nie zuvor“, sagt Frank Appel Anfang Oktober letzten Jahres, als er in seiner Funktion als Vorstandsvorsitzender den neuen Fünfjahresplan der Deutschen Post vorstellt. Daran hat auch die Coronakrise nichts geändert, im Gegenteil (siehe Text rechts).

Die Deutsche Post DHL Group ist der weltweit führende Post- und Logistikkonzern. Diese Position zu behaupten, ist eines der Kernziele der „Strategie 2020“ des Konzerns, neben einer weiteren Umsatzsteigerung.

Dabei sorgte die Brief­kom­mu­ni­ka­tion innerhalb Deutschlands im Jahr 2018 für einen Umsatz von 4,3 Mil­liar­den Euro, beim Paketversand waren es 11,6 Milliarden Euro. Mit Blick auf den Gesamtumsatz von 61,6 Milliarden Euro sind dies verhältnismäßig kleine Anteile. Das Geschäft mit Privatkunden ist für die Deutsche Post drittrangig, nach der Logistik und der Geschäftskundschaft. Und genau das bekommen Mitarbeitende wie auch Kund:innen zu spüren.

In Kreuzberg verstreicht die Zeit. Alles bewegt sich fließend, nur die Schlange vor dem Spätkauf steht fast still. Ein junger Mann kommt aus dem Laden und ruft in die genervten Gesichter: „Zweite Ansage: Um 19 Uhr mache ich Feierabend. Dann kommt keiner mehr ran!“ Er trägt sein weißes Basecap verkehrt herum über der in Falten gelegten Stirn. „Aber ich habe ein Einschreiben, was mache ich damit?“, fragt eine hohe Stimme aus dem hinteren Teil der Schlange, für die die Chancen, heute noch dranzukommen, schlecht stehen.

„Das ist jeden Tag so“, sagt eine Frau. Über der Schulter trägt sie einen leeren, geblümten Beutel, der darauf wartet, gefüllt zu werden. „Seit 30 Minuten bewegt sich nichts. Ich stehe zum dritten Mal hier. Morgen muss ich wieder zur Arbeit, und mein Paket wird zurückgeschickt“, sagt sie. Vom Ende der Schlange sagt ein Glatzkopf: „Früher gab es einen Riesenhaufen Postläden. Man braucht einen größeren Laden. Oder mehr Läden.“

War früher wirklich alles besser? Nach wie vor bewegt sich die Deutsche Post im gesetzlichen Rahmen der „Post-Universaldienstleistungsverordnung“ (PUDLV). Diese sieht unter anderem bundesweit 12.000 „Anlaufstellen“ für Postbelange vor. Nach Angaben der Post werden alle Kriterien zur postalischen Grundverordnung „übererfüllt“. Das Problem liegt anscheinend nicht in der Anzahl der Läden, sondern in der schlechten Organisation der Paketabfertigung in den Geschäften.

„Die machen eine Post zu, wo vorher auch immer viele Leute standen, und machen so ein kleines Ding auf“, sagt auch die Frau mit dem geblümten Beutel zu einer Nachbarin. Die Zeit drängt. Ihre Stimme wird schneller: „Wie soll das gehen mit dem Paketaufkommen? Das ist ja zehnmal mehr. Manchmal geht die Schlange bis zur nächsten Straßenkreuzung!“

In der Realität ist das jährliche Paketvorkommen zwar nicht zehnmal so hoch, hat sich seit 2010 aber immerhin verdoppelt. Wurden vor zehn Jahren an Werktagen deutschlandweit durchschnittlich 2,6 Mil­lio­nen Pakete befördert, waren es 2018 fast doppelt so viele. Gleichzeitig werden Post­filia­len mit genügend Lagerplatz und Expertise immer weniger.

Wie auch in dem Teil von Kreuzberg, in dem die Leute vor dem Späti anstehen. Im Herbst 2018 zog die letzte Postbank mit Postfiliale des Kiezes von der Skalitzer Straße auf die andere Seite der Spree, in die neu erbaute East Side Mall in Friedrichshain, anderthalb Kilometer entfernt. Weder Paketbot:innen noch die Kundschaft verirren sich an den neuen Standort, der mit dem Transporter umständlich zu erreichen und zu Fuß schlichtweg zu weit von vielen Wohnorten entfernt ist.

Nun stemmen hier ausschließlich Spätshops das Geschäft. Obwohl es zu viele Pakete gibt, konkurrieren sie zudem. Denn die Post vergütet die Ladeninhaber nicht pauschal, sondern pro Paket. 40 Cent beträgt ihr Anteil, erzählt der Verkäufer eines anderen Spätkaufs. Zu ihm würden kaum noch Pakete gebracht. Nicht schlimm, sagt er, denn gemessen an dem Aufwand lohne sich das Geschäft ohnehin kaum.

Im Zweifel landen die Pakete in den Packstationen. Da die gelben Metallkisten im Regalformat jederzeit zugänglich sind, kämen sie nach Angaben der Pressestelle „den Bedürfnissen unserer Kunden entgegen, die die Pakete gern […] flexibel versenden oder empfangen möchten“. Derzeit gibt es rund 4.500 Packstationen, schon 2021 sollen es 7.000 sein.

Im Jahr 1993 begann die Deutsche Post, mit Geschäften zu kooperieren. Seit 2011 hat sie keine Filialen mit eigenem Personal mehr

„Weißt du, wann der Laden morgen aufmacht?“, fragt der Glatzkopf am Kreuzberger Spätkauf die Frau vor sich. „Ich glaube um neun, aber es wird nicht besser“, sagt sie. „Dann stell ich mich morgen fünf vor neun hier hin“, sagt er. „Vorplanen ist alles!“ Er winkt ab und verschwindet auf die andere Straßenseite zurück in seinen Alltag.

Nicht alle reagieren so gelassen. Über der Menschenschlange dampfen Atemwolken, Zigarettenrauch und Frust. Als der Spätiverkäufer erneut aus dem Laden lugt, um die Schlusszeit anzukündigen, erntet er einzelne Beleidigungen. „Ich bin auch nur ein normaler Arbeiter. Ich tu auch, was ich kann, und bin am Ende meiner Kräfte“, entgegnet er und zieht sich wieder in den Laden zurück.

Früher waren Mitarbeitende der Post verbeamtet. Ihr Beruf war angesehen, sicher und entsprechend vergütet. Heute arbeiten die Mitarbeitenden der Post in fast gegensätzlichen Verhältnissen. Das liegt daran, dass es die Postfiliale mit dem Postmitarbeiter in Deutschland genau genommen nicht mehr gibt.

1993 begann die Deutsche Post mit Kaufleuten zusammenzuarbeiten. Seit 2011 hat die Post gar keine Filialen mit eigenem Personal mehr. Die restlichen Beamten wurden in ein Vor­ruhe­stands­programm gesteckt. Nun bleibt die Arbeit beim Einzelhandel und bei den Postbank-Filialen. Das schlägt sich auf den Service nieder.

Was früher ein Ausbildungsberuf war, ist heute mit einer kurzen Erklärung erledigt. Die Deutsche Post schult neue Partnergeschäfte einmalig, danach liegt das Gröbste in ihren Händen. Das bestätigen Mit­ar­bei­ter:in­nen verschiedener Partnerfilialen.

Hinzu kommt, dass die Mitarbeitenden der Post sich nicht als solche gewerkschaftlich organisieren, da sie in erster Linie für den Einzelhandel arbeiten. Oftmals bewegt sich ihre Bezahlung zwischen Mindestlohn und Scheinselbstständigkeit, ihre Arbeitszeiten jenseits der Vorschriften.

Die Deutsche Post steht so gut da, wie nie zuvor – weil sie an Kosten und Verantwortung spart. Gleichzeitig erhöht der Konzern stetig die Portopreise. Zu hoch, fand die Bundesnetzagentur. Sie kündigte Ende Januar ein offizielles Prüfverfahren der ab Jahresanfang geltenden Preiserhöhungen an und bewegte die Deutsche Post dazu, die erhöhten Paket­preise zum Mai zurückzunehmen.

Seit der Verabschiedung des Postgesetzes 1998, das gegen die Monopolstellung der Deutschen Post wirken sollte, hat das Unternehmen ebendiese de facto verteidigt. Für die Deutsche Post gibt es im Post- und Paketbereich keine ernstzunehmenden Konkurrenzunternehmen. Und doch heißt es aus der Reihe vor dem Kreuzberger Späti, sie habe sich runtergewirtschaftet.

Das weiße Basecap streckt seinen Kopf wieder aus dem Laden: „In 15 Minuten machen wir zu. Dann kommt keiner mehr ran. Wer was abgeben will, kann nach vorn kommen.“ Die Menge protestiert. Am lautesten eine fein gekleidete Frau ganz hinten an der Schlange. Sie behauptet bereits eine halbe Stunde zu warten, nennt ihn „Arschloch“. „Das bringt doch nichts, ihn anzuschreien“, versucht ein junger Mann zu schlichten. Sie könnte sich bei der Post beschweren, doch was würde das ändern?

Die Beschwerden nehmen zu. Im Jahr 2019 gingen 18.000 ein, im Jahr zuvor waren es nur 12.600, im Jahr 2017 lediglich 6.100. Gut die Hälfte bezog sich auf zu spät zugestellte oder verloren gegangene Briefe, rund 34 Prozent auf Pakete, die nicht richtig oder niemals zugestellt wurden.

Der Rechtsweg auf Schadenersatz ist zumeist ausgeschlossen. Der Konzern verweist auf die Beschäftigten, und anstatt den Konzern zu belangen, möchte auch die Politik trotz aller Prekarität der Beschäftigten eben dort angreifen.

Im Jahr 2019 gingen 18.000 Beschwerden bei der Post ein, 2017 nur 6.100

Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) kündigte Ende 2019 eine Reform des Postgesetzes an, nach dem die Post nach fünf statt sechs Tagen ausgeliefert werden müsse und bei Nichtzustellung ein Bußgeld drohe.

Auch der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg setzte das Thema Ende Januar auf seine politische Agenda. Im ehemaligen Postzustellbereich 36, in dem auch der Spätkauf mit der Menschenschlange liegt, ist das Problem besonders drastisch. Neben der Filiale in der Skalitzer Straße hat nun auch die in der Ritterstraße geschlossen, somit gibt es jetzt keine richtige Postfiliale mehr.

Nicht nur stünden die Menschen bis zu eineinhalb Stunden an, auch immer mehr Pakete gingen verloren, es herrsche Chaos, sagt die Grünen-Politikerin Taina Gärtner kürzlich der taz. Im Gegensatz zu Altmaier sieht sie das strukturelle Problem. Ihre Hoffnung ist, dass der Stadtrat Gespräche mit der Post aufnehme, denn die Beschwerden der Kun­d:in­nen führten zu keiner Lösung. „Alles in allem ist das kein Service mehr, wie man ihn von der Post erwarten darf“, sagt Gärtner.

Doch was darf man noch erwarten? Die Post als Institution ist tot. Dieser Eindruck wird zumindest erweckt, wenn man zu den Glücklichen gehört, die die Schwelle zum Spätkauf vor 19 Uhr überschritten haben.

Der Raum ist schmucklos. Auf der einen Seite steht ein Kaffeeautomat zur Selbstbedienung, ohne Becher, in einer Ecke eine unbeachtete Lotto­theke. Auf der anderen Seite zwei grell beleuchtete Kühlschränke, einer ist leer, im anderen steht eine einsame Flasche Brause, dazwischen: ein Metallregal mit Briefumschlägen, Druckerpapier und einer Winkekatze. Darüber das Graffiti eines Posthorns.

Über dem Tresen ein Bild mit einer stehengebliebenen Uhr, auf dem „Take Time“ steht. Außerdem: „Life ist too short to be serious all the time. So if you can’t laugh at yourself, call me … I’ll laugh at you“. Hier lacht niemand.

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