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Konfrontation mit den großen Fragen

An der Leuphana-Universität Lüneburg steht für alle Erstsemester am Anfang erst einmal fächerübergreifend das Thema Nachhaltigkeit im Mittelpunkt

Nicht nur von der Optik her eine besondere Hochschule: die Leuphana Universität Foto: Philipp Schulze/dpa

Von Joachim Göres

Die Altkleiderspende – Segen oder Fluch? Ist die Einführung eines allgemeinen Tierwohllabels sinnvoll und wer profitiert davon? Können Filme unser Nachhaltigkeitsbewusstsein verändern? Fragen über Fragen, mit denen man im Hauptgebäude der Leuphana-Universität Lüneburg von jungen Studierenden konfrontiert wird. Immer am Ende des Wintersemesters findet an der Leuphana-Universität die Konferenzwoche statt, auf der die rund 1.500 Erstsemester die Ergebnisse ihres Projektstudiums präsentieren. Sie gestalten kleine Ausstellungen und fassen ihre wichtigsten Erkenntnisse kurz zusammen, um mit ihren Kommilitonen ins Gespräch zu kommen.

„Eine Suchanfrage bei Google benötigt die Energie einer Sparglühbirne, die eine Stunde im Betrieb ist. Pro Sekunde wird die Suchmaschine von Google rund 50.000 Mal benutzt“, erzählt Milla Semisch einem Dutzend junger Leute, die um sie herumstehen. Semisch studiert seit vorigem Herbst an der Leuphana-Unviersität Umweltwissenschaften. Sie hat das Projektseminar „Verantwortung verteilen für Klimaschäden – wer ist zu was verpflichtet?“ gewählt und sich mit vier weiteren Studierenden überlegt, inwieweit Google Verantwortung für Klimaschäden übernehmen muss. Die öffentliche Präsentation der Projekt-Ergebnisse läuft in der Konferenzwoche parallel zu Vorträgen, Podiumsdiskussionen und Publikumsgesprächen, zu denen alle Lüneburger eingeladen sind.

Das Ganze ist Teil eines bundesweit einmaligen Studienmodells. An der Leuphana beginnt das Fachstudium erst im zweiten Semester. Im ersten Semester werden die meisten Module fächerübergreifend unterrichtet, egal ob man sich für Ingenieurwissenschaften, Rechtswissenschaften oder Psychologie eingeschrieben hat. Alle Studierenden bekommen grundlegende Kenntnisse in Statistik und Wissenschaftsgeschichte vermittelt und lernen die Grundzüge des Programmierens kennen. Und alle müssen sich mit dem Oberthema „Wissenschaft trägt Verantwortung: Verantwortung und nachhaltiges Handeln im 21. Jahrhundert“ ausein­andersetzen und in diesem Rahmen ein Projekt zum Thema Nachhaltigkeit ausarbeiten.

„Es ist schon sehr interessant, wenn man in Seminaren über Globalisierung und Digitalisierung zum Beispiel mit BWLern kontrovers diskutiert, die durch ihr Fach einen ganz anderen Blickwinkel haben. So bekommt man selber neue Anregungen“, sagt die Politikstudentin Cecilia Wiesenewsky. Die angehende Umweltwissenschaftlerin Julia Ludwig freut sich, dass an der Leuphana-Universität das Thema Nachhaltigkeit so intensiv behandelt wird – sie würde sich aber mehr Auseinandersetzung wünschen. „In den Diskussionen herrscht Konsens, dass man nachhaltig leben sollte. Es gibt aber Studierende, die sagen einfach nichts dazu.“

Dazu gehört Sascha Haberbeck, der Wirtschaftsinformatik studiert. „Ich halte mich bei solchen Themen raus, weil es mich auch nicht interessiert. Ich bin froh, wenn im zweiten Semester das eigentliche Studium beginnt“, sagt er und fügt hinzu: „Das sehen die meisten Leute in meinem Studienfach so.“

Nur auf Wirtschaftsinformatik wird er sich allerdings auch ab dem 2. Semester nicht konzentrieren können – an der Leuphana-Universität müssen die mehr als 9.000 Studierenden pro Semester ein fächerübergreifendes Komplementärmodul wählen. Das Seminar mit zwei Wochenstunden aus einem anderen Studienbereich soll dazu beitragen, dass die Studierenden sich mit interdisziplinären Perspektiven auseinandersetzen und so den Blick über den eigenen Tellerrand beibehalten.

„Wer etwa Physik studieren will, ohne sich mit Fragen der gesellschaftlichen Verantwortung zu beschäftigen, sollte lieber eine andere Universität wählen“, sagt Steffi Hobuß, Philosophie-Professorin und Leiterin des Leuphana College. Sie berichtet von den Ergebnissen der regelmäßig durchgeführten Befragungen der Studierenden, warum sie sich für Lüneburg als Studienort entschieden haben. An erster Stelle steht das jeweilige Fach. Das besondere Studienmodell wird zusammen mit der Wohnortnähe als drittwichtigster Grund genannt.

Alles Digital

Seit Anfang April laufen 90 Prozent der 1.600 für das Sommersemester geplanten Veranstaltungen an der Uni Lüneburg digital, nur Exkursionen und Laborpraktika wurden verschoben.

Begrenzte Teilnehmerzahl

„Für Lehrende und Studierende bieten wir bei Problemen technische Unterstützung an“, sagt Leuphana-Sprecher Henning Zühlsdorff. Seminare blieben auf 25 Teilnehmer begrenzt, um virtuelle Diskussionen und eine vernünftige Betreuung der Studierenden zu garantieren.

Diskussionen per Video

Die Leuphana veranstaltet in diesem Semester öffentliche Diskussionsforen per Video zum Thema Pandemie und Digitalkultur. Wer eingeladen werden möchte, meldet sich unter cdcforum@leuphana.de an. Infos unter: www.leuphana.de/zentren/cdc.html

„Im ersten Semester fühlen sich einige Studierende mit der besonderen Struktur überfordert. Doch je länger sie hier studieren, umso mehr schätzen sie, dass wir sie von Anfang an mit großen Fragen konfrontieren“, sagt Hobuß – und räumt ein, dass der problemlose Wechsel an eine andere Uni zum Master-Studium auch davon abhängt, dass man seine Veranstaltungen im Bachelor-Studium wohlüberlegt gewählt und so genügend Credit Points erworben hat.

Die Leuphana-Universität kann sich nicht über mangelndes Interesse beklagen: Auf einen Studienplatz kommen im Schnitt fünf Bewerber. Am stärksten waren zuletzt Bachelor-Studiengänge wie Psychologie, International Business Administration and Entrepreneurship oder Digital Media gefragt.

Positiv wertet Hobuß, dass die meisten Studienanfänger in Lüneburg nicht direkt von der Schule kommen, sondern bereits praktische Erfahrungen zum Beispiel in einem freiwilligen sozialen Jahr gesammelt haben – das Durchschnittsalter der Erstsemester liegt bei 21,6 Jahren. Sie betont, dass es bei dem Schwerpunkt Nachhaltigkeit nicht nur um theoretische Fragen gehe: „Handlungsorientierung spielt eine wichtige Rolle. Es gibt an der Uni 67 freiwillige studentische Initiativen, die praktisch etwas tun.“

Auch Milla Semisch will es nicht bei der akademischen Beschäftigung mit dem Konzern Google belassen, den sie dafür kritisiert, dass er Leugner des Klimawandels finanziell unterstützt. Sie und ihre Mitstreiter in der Projektgruppe haben Buch geführt und so festgestellt, dass sie täglich im Schnitt sechsmal googeln. Das wollen sie künftig bewusster und seltener tun – und zudem auch umweltfreundlichere Suchmaschinen nutzen.