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: Die Pandemie und die Solidarität in und mit Brandenburg

Die Freundin, mit der wir uns das Gartengrundstück im Landkreis Oberhavel teilen, berichtet, dass die Nachbarin laut aufjaulte, als sie ihr Auto mit Berliner Kennzeichen vor dem Zaun parkte: „Wat macht sie denn hier?“, nölte sie über den Kopf unserer Freundin hinweg ihren Mann an, anstatt die Gemeinte selbst anzusprechen. „Ich dachte, die dürfen das nicht.“

„Die“ sind wir. Nun adelt der Notstand die Fremdenfeindlichkeit zur Notwendigkeit. Das wacklige Gatter des Anstands wird endgültig geöffnet und die Sau herausgelassen. Gerüchte fliegen über Gartenzäune hin und her: Die Stadtmenschen rücken an, im Sturmgepäck ihren posturbanen Coronaklubseuchensiff. Jetzt aber fix die Zugbrücke hoch und die Zinnen besetzt.

Das ist es nämlich, was wir tun: Wir steigen in aller Herrgottsfrühe ins Auto und fahren zum zweiten Zuhause. Noch im Stadtgebiet kaufen wir im fast menschenleeren Supermarkt an der Ausfallstraße ein, um jeden Kontakt mit Einheimischen zu vermeiden. Auf der Landstraße schaue ich dennoch in den Rückspiegel, ob da ein verbeulter Pick-up auftaucht, mit dem uns gleich eine Horde „Da sind die verseuchten Schweine!“ johlender Hillbillys von der Straße drängen wird. Vielleicht habe ich zu viele amerikanische Indie-Filme gesehen. Aber gemocht haben die Brandenburger uns eh noch nie besonders. Jetzt sollen wir endgültig bleiben, wo wir hergekommen sind.

In der Zeitung stand: Wer eine Datsche hat, solle aus Solidarität mit denen, die keine haben, in der Stadt bleiben. Und eben auch wegen der Brandenburger. Denn wenn wir uns den Fuß brächen, würden wir eines der raren märkischen Krankenhausbetten belegen. Wir brechen uns aber nicht den Fuß, wenn wir dort den ganzen Tag allein im Liegestuhl sitzen. Keine Menschenseele ist zu sehen, auch die bösen Nachbarn haben sich in ihre Burg zurückgezogen. Nur unser Verpächter kommt kurz, wir halten ein Schwätzchen schön brav mit drei Meter Abstand. Er nimmt die Pandemie genau so ernst wie seine Nachbarn; er ist einfach nur nicht so ein Arschloch. Morgen werden wir vorsichtig wieder zurück in unser anderes Zuhause fahren.

Bleibt noch der Ansatz, jedem solle es gleich schlecht gehen, um die verbreitete Lüge, vor Corona seien wir alle gleich, vielleicht doch noch irgendwie hinzubiegen. Auf einmal ziehen viele liebe Privilegierte das seit dem Frühmittelalter im Ärmel verstaubende Ass der alleinerziehenden Mutter hervor und knallen es vor den bösen Privilegierten auf den Tisch – zack, gestochen!

Aber eigentlich eine geile Idee: Die Hütte bleibt leer, der Garten vertrocknet. Aus Solidarität verkleinern wir unsere Fünfzimmerwohnungen künstlich auf ein Zimmer. Die Dienstboten sind eh auf Kurzarbeit. Auch die Nerven des Hedonistenpärchens sind schon reichlich angespannt: Nach Wochen nur zu zweit in unserem Palast verdichten sich zahllose Mikroaggressionen zu einem derart langen Läufer aus verfilztem Hass, dass er von Hades-Mitte bis in die ersten Vororte von Armageddon reicht. Unter diesen Vorzeichen machen wir nun Soli-Self-Homeschooling. Dafür brauchen wir auch keine Kinder; viel anstrengender sind ohnehin brettbehämmerte 50-Jährige, die sich auf nichts außer ihrer Scrabble-App länger als eine Minute konzentrieren und einen Logarithmus nicht von einem spanischen Hilfsverb unterscheiden können. Das gibt Tränen und Geschrei, da merken wir dann endlich mal, wie sich das anfühlt.

Was ich aber eigentlich sagen wollte: Uns geht es gut. Wir können rausfahren, wir können hierbleiben, es ist egal, es ist für alle außer uns vollkommen unwichtig, so oder so.

Uli Hannemann