piwik no script img

Geprobte Katastrophen

Von der Wirklichkeit eingeholt: Die Dokumentation „Master of Disaster“ zeigt Menschen, die sich professionell Gedanken machen über Unglücke und ihre Folgen

Einleuchtend: Katastrophenübung der Feuerwehr Foto: Filmtank Audience

Von Wilfried Hippen

Das Wichtigste zuerst: Nein, die derzeitige Krise, die Corona-Pandemie hat keiner der vielen Experten vorhergesagt, die in „Master of Disaster“ auftreten. Aber einige waren nah dran, um nicht zu sagen: haben haarscharf daneben gezielt. So gibt es in der Dokumentation von Jürgen Brügger und Jörg Haaßengier eine kurze Einstellung, welche die explosionsartige Ausbreitung eines Virus sehr anschaulich auf den Punkt bringt: Beim „Kaskadeneffekt-Experiment“ platziert man Hunderte von gespannten Mausefallen möglichst nah beieinander, und auf jeder liegt ein Pingpongball. Dann wird ein einziger Pingpongball in dieses Spannungsfeld geworfen, dessen labile Ordnung sich innerhalb weniger Sekunden in ein Chaos verwandelt.

Für die meisten Menschen war es noch vor kurzem extrem unwahrscheinlich, dass eine Katastrophe die Lebensumstände im ganzen Land – erst recht in weiten Teilen des Planeten – radikal verändern könnte. Nicht so für die Spezialisten, die solche Szenarien antizipieren und Pläne entwerfen, um die Auswirkungen zu begrenzen; Menschen, deren Aufgabe es etwa auch ist, Übungen zu organisieren, damit Hilfskräfte für den Einsatz bei so einem Desaster vorbereitet sind. Um solche Spezialisten, um Katastrophenschützer und –erforscher, geht es in diesem Film.

Radioaktive Verseuchung, totaler Blackout als Folge eines Cyberangriffs, eine Zugentführung und -entgleisung mit Hunderten Toten und Verletzten – oder auch ein Bioangriff durch Terroristen, bei dem gezielt hochinfektiöse Krankheitserreger freigesetzt werden: Für diese Fälle gibt es in Deutschland und der Schweiz Einsatzpläne; zum Teil haben die Zuständigen extrem aufwendige Vorkehrungen getroffen, um zu kontrollieren, was im Katastrophenfall passiert und was nicht.

Kennen Sie etwa das „Swiss Fort Knox“, jene unter einem Berg gebaute Festung? Anders als die Anspielung aufs US-Gold-Depot nahe legt, lagern die Schweizer dort kein Edelmetall, sondern etwas heute vielleicht noch viel Wertvolleres: die Daten internationaler Firmen. So dass im Falle eines weitreichenden Daten-Blackouts auf diese Kopien zurückgegriffen werden könnte.

Spezielle Großübungen simulieren riesige Unglücksfälle – inklusive freiwilliger Helfer, die von Maskenbildnern mit täuschend echten Wunden oder abgetrennten Gliedmaßen in hilfsbedürftige „Opfer“ verwandelt werden. Da stellt sich sogar die dieser Tage beängstigend relevante Frage nach der Triage: Wen sollen die Hilfskräften retten, wen zurücklassen?

Einige dieser Übungen – mit Namen wie „Ensure“, „Achilles“ oder „Heißer Süden“ – haben Brügger und Haaßengier mit der Kamera begleitet. In diesen Sequenzen arbeiten sie mit den Stilmitteln des Katastrophenfilms, verbreiten also möglichst eindrucksvoll Schrecken, mitsamt blutiger Nahaufnahmen, bedrohlicher Stimmung und eines passenden Sounddesigns. Betont sachlich erzählen dagegen die Spezialisten von den von ihnen prognostizierten Schreckensszenarien. „Es ist auf jeden Fall sinnvoll, sich auf den worst case einzustellen“, sagt gar einer, „dann kann man froh sein, wenn es nicht ganz so schlimm kommt.“ Solche Sätze haben heute wohl eine ganz andere Resonanz als zur Zeit der Aufnahme: Damals waren die Sprechenden wie einsame Rufer in der Wüste.

Zwei dieser Katastrophenprofis – im Film mit einer Ausnahme allesamt Männer – werden dann auch tatsächlich als ein etwas komisches Paar inszeniert: Da wandern Volker Schmidtchen und Hans-Walter Borris durch eine sommerliche Landschaft, untersuchen die Zäune um ein Wasserreservoir und suchen in dieser Idylle nach Anzeichen dafür, wie schlimm dort bei einer Katastrophe alles enden könnte.

Die wahrscheinlichsten Katastrophen waren für die meisten Spezialisten übrigens „ein Blackout und eine Pandemie“, erzählt Thomas Tielsch, Produzent von „Master of Disaster“ der taz – „leider wurde dieser Satz von niemandem gesagt“. Also fehlt er im Film, so wie auch die schöne Pointe –und bei diesem Thema ist man für jeden Anlass zum Lachen dankbar: Es gibt tatsächlich Studiengänge mit dem Abschluss „Master of Disaster“.

Master of Disaster“. Regie: Jürgen Brügger, Jörg Haaßengier. D/CH 2019, 79 Min.

Zu sehen auf www.kino-on-demand.com/movies/master-of-disaster sowie https://vimeo.com/ondemand/masterofdisaster

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen