Ein Engel, der Verfolgte aus der Hölle rettete

Gertrud Steinl, letzte Deutsche unter den als „Gerechte der Völker“ Geehrten, ist gestorben

Gertrud Steinl, rechts, mit Staatssekretärin Anna Stolz 2019 in Nürnberg Foto: André Freud/dpa

Von Klaus Hillenbrand

In Stryj, einer Kleinstadt, damals in Polen gelegen und heute zur Ukraine gehörend, waren die 12.000 dort lebenden Juden ihres Lebens nicht mehr sicher. Im Juli 1941 hatte die deutsche Wehrmacht das Gebiet von den Sowjets erobert, ab August begannen dort die judenfeindlichen Aktionen. Sie alle mussten einen „Judenstern“ tragen und Zwangsarbeit leisten.

Nach gut einem Jahr der Besatzung, im September 1942, zwangen SS, Gendamerie und ukrainische Polizisten etwa 5.000 Menschen zum Bahnhof, wo sie in Güterwaggons geladen wurden. Das Ziel des Zugs war das Vernichtungslager Belzec. Es war dies nur die erste von einer ganzen Reihe von „Säuberungen“, an deren Ende der Sicherheitsdienst der SS Stryj für „judenrein“ erklärte. Die Region in den Karpaten war für das Deutsche Reich von besonderer Bedeutung. Denn dort gab es Ölvorkommen, die nun von der Beskinden Öl – später Karpaten Öl AG – und ihren Zwangs­ar­bei­te­rIn­nen ausgebeutet wurde.

Als kaufmännischer Leiter des Unternehmens fungierte im rund 30 Kilometer von Stryj entfernten Borysław ein gewisser Berthold Beitz. Für dieselbe Firma war in Stryi eine junge deutsche Frau namens Gertrud Steinl als Aufseherin tätig. Die Tochter eines Textilunternehmers stammte aus dem Sudetenland. Beitz und Steinl haben sich nicht gekannt. Und doch verband beide eine unerhöhte und mutige Tat. Sie halfen verfolgten Juden, damit diese dem Holocaust entgingen. Steinl, so schreibt es die israelische Gedenkstätte Yad Vashem, habe „eine warme und menschliche Einstellung gegenüber ihren Arbeiterinnen gezeigt“. Eine dieser Arbeiterinnen vertraute sich ihr an. Sarah Shlomi, geborene Fröhlich, erklärte Steinl, dass sie Jüdin sei und ihre Ermordung fürchten musste.

Daraufhin schickte Steinl die Frau ins Haus ihrer Eltern in Graslitz. Dort arbeitete Shlomi zunächst als Haushaltshilfe, später bis zum Kriegsende 1945 in einer Munitionsfabrik. Berthold Beitz erlebte Angang Juli 1941, wie die Schutzpolizei und ihre Helfer bei der Räumung des jüdischen Waisenhauses von Borysław die Kinder aus den Fenstern geworfen wurden.

Äußerst mutig und furchtlos versteckte Gertrud Steinl Juden vor dem Zugriff der SS-Schlächter

Vorab informiert

Beitz besaß Beziehungen, die Steinl nicht hatte. Weil er vorab über Mordaktionen gegen Juden unterrichtet wurde, konnte er die Menschen im großen Stil als angeblich unverzichtbare Arbeitskräfte retten. Mehrmals holte er in letzter Minute Menschen aus den Zügen in die Vernichtungslager und reklamierte sie als „unabkömmlich“. „Als ob ein Engel in die Hölle kam“, beschrieb später einer der Überlebenden sein Wirken. Bereits im Jahr 1973 ist der spätere Krupp-Manager Berthold Beitz von Yad Vashem als „Gerechter unter den Völkern“ geehrt worden.

Gertrud Steinl arbeitete nach dem Zweiten Weltkrieg an einem Gericht zur Rückerstattung von Vermögenswerten in Nürnberg und studierte. Der Kontakt zur geretteten Sarah Shlomi, die nach Israel ausgewandert war, brach nie ab. 1979 erhielt auch Steinl die Auszeichnung von Yad Vashem als Juden-Retterin. Berthold Beitz starb 2013. Gertrud Steinl erhielt im vergangenen Jahr das Bundesverdienstkreuz. Am 16. März ist sie einen Tag vor ihrem 98. Geburtstag verstorben. Steinl war, so heißt es, die letzte noch lebende Deutsche, die diese Auszeichnung erhielt.