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Auslaufmodell im Burn-out-Chaos

Vom „Sinn der Sinnlichkeit“ will Gregor Zölligs Choreografie künden: Zur Maschine degradierte Menschen kuscheln und verknoten sich – und kriechen zurück ins Meer

Gestresst zur Gruppe zusammengedrängt: Nähe allein führt noch nicht zur sozialen Bindung Foto: Fotos (2): Bettina Stöß

Von Jens Fischer

Wie sich die digitale Umwelt aufs analoge Selbst und die biologisch-anatomische Basis, den Körper nämlich, auswirkt, das will das Tanzensemble des Staatstheaters Braunschweig untersuchen – und gegensteuern. „Vom Sinn der Sinnlichkeit“ soll die neue Produktion der Braunschweiger Tänzer*innen unter Anleitung ihres Chefchoreografen Gregor Zöllig künden. Performt also erst mal beschleunigten Alltag, der auf berechenbare und vorhersagbare Ereignisse reduziert wird.

Pixelrauschen beflimmert die Tanzfläche, das Tanzpublikum sitzt drumherum wie bei einer Modenschau. Das neunköpfige Ensemble hantiert derweil mit Geräten wie Ventilator, Drucker, Mikrowelle, Kaffee- und Waschmaschine. Solch bedienungssüchtige Alltagselektroartikel degradieren die Tänzer*innen zu getriebenen und hilflos treibenden Objekten. Sie absolvieren Alltagstätigkeiten hektisch und vereinzelt, getrieben und gestresst, werden ab und an auch von Lichtbändern zu einer Gruppe zusammengezwängt. Nähe, die alle fluchtwillig drängeln lässt.

Wenn die Gruppe auseinanderstiebt, dann aber nicht mit einem individuellen Bewegungsvokabular. Die Bewegungskünstler*innen paradieren ruckartig unisono wie Roboter: als uniforme Masse Mensch. Von ihrem Körper und damit von sich selbst entfremdete Wesen, die nicht mehr wissen, wo das eigene Zentrum ist oder das In-der-Welt-Sein einen Anker hat. Daher, so behauptet die Choreografie, löst sich unser soziales System wie die Choreografie in einem Burn-out-Chaos auf.

Es wird aneinander geschnüffelt, auch Haut an Haut gerieben, sich abgetastet, zudem geküsst und geleckt, also geschmeckt

Dazu serviert werden eine wilde Light-Show und Geräusche, die wie durch ein geöffnetes Fenster hereindringen, rhythmisiert und elektronisch verfremdet werden und zu einer formidablen Lärmbelästigung anschwellen (Musik und Video: Laurenz Gemmer und Andreas Völk). Moderne Zeiten! Auf Effizienz abgerichtetes, computergestütztes Dasein. Im Fokus steht der in digitaler Dauer-Kommunikation bei gleichzeitiger Freundschaftsarmut im Analogen das Leben verpassende Mensch, von der umgebenden Technik selbst halb zur Maschine degradiert. Und nun?

Die Bühne wird dunkel, die Klanginstallation verstummt. Tänzer flüstern. Wider die Körpervergessenheit. Ihr Leib soll kein Auslaufmodell sein, sondern künstlerisches Medium und Instrument der Befreiung. Ort des Natürlichen. So die pathetische Behauptung. Nach dem dramaturgisch und inhaltlich überzeugenden Beginn setzen die vereinzelten Wesen unterleibsbetonend auf sinnliche, durchaus erotisch gemeinte Bewegungen.

Immer wieder treffen sich zwei Tänzer*innen zum Pas de deux, nutzen das für elegante Hebefiguren, entdecken, erkunden, streiten sich, verfallen in Machtspiele, stoßen sich weg, um dann doch einander in aller Geilheit anzuspringen. Was für ein akrobatisches Anschmiegen, Kuscheln, Herumzärteln. Sich-ineinander-Verknoten. Der Gegenentwurf zur Un-Verbindlichkeit der immateriellen Welt der Einsen und Nullen sowie der aktuellen Fixierung auf optische und mit Abstrichen akustische Reize aus dem Internet. Bei Zöllig brennen die Sicherungen des sinnlichen Genusses durch. Es wird aneinander geschnüffelt, auch Haut an Haut gerieben, sich abgetastet, zudem geküsst und geleckt, also geschmeckt.

Alle wollen zudem irgendwie zurück auf Anfang. Äpfel werden gereicht, Stichwort: paradiesischer Neubeginn des Mensch- und Paarseins. Die mit klassischem Vokabular gespickten Tänze vermitteln wohl auch den Wunsch: zurück zum Ballett.

Rolle rückwärts in der Evolution: Am Ende gibt‘s auch mal esoterischen Unsinn zu sehen

Amphibisch kriechende oder den Kopf in Wasser steckende Tänzer verweisen auf die Volte rückwärts in der Evolution des Lebens. Weswegen sich alle die Ohren zuhalten und dem dann tosenden Meeresrauschen lauschen. So und mit „der wellenartigen Bewegung in uns, werden wir eins mit der Natur, mit der Gemeinschaft, der Erde, dem Universum und mit uns“, so die Erklärung auf dem Programmzettel. Das ist natürlich esoterischer Unsinn.

Sinn ergibt aber die furios vertanzte Sinnlichkeit des Abends. Sie weckt die Sehnsucht nach mehr davon, also dem Benutzen aller Sinne, um die im ständigen Blick auf Displays, Monitore, Bildschirme verkümmerte Physis zu sich selbst zu befreien.

„Vom Sinn der Sinnlichkeit“: Fr, 6. 3., 19.30 Uhr, Theater Hameln; Mi, 11. 3., 19.30 Uhr, Staatstheater Braunschweig, Kleines Haus; weitere Termine in Braunschweig: 21. 3., 26. 3., 29. 3.

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