: Bis der Mensch fehlt
Von der Straßenszenen- und Menschen-Zeichnerin zur Kubistin: Das Kunsthaus in Stade zeigt eine wunderbar unaufgeregte Werkschau der Malerin und Zeichnerin Jeanne Mammen
Von Frank Keil
Am 6. Oktober 1975 signiert und datiert Jeanne Mammen ihr Bild „Verheißung eines Winters“. Es ist ein wuchtiges Materialbild, die weiße Farbe aufgespachtelt, symbolistisch grundiert mit Masken, sich kreuzenden Linien und vagen blauen Schatten. Es ist das einzige Bild, dass sie je mit einem Datum versehen hat; das letzte, das sie gemalt hat, mit 85 Jahren. Und es ist das letzte Bild in der Ausstellung „Jeanne Mammen – Alles zu ihrer Zeit“ im Kunsthaus Stade, oben im dritten Stock, hinten an der Stirnseite im letzten Raum hängt es.
Es ist eine wunderbar einführende Werkschau, mit der das Haus seine Ausstellungspolitik der letzten Jahre fortsetzt: Werke von Künstlerinnen und Künstlern zu präsentieren, die nicht gänzlich unbekannt sind, bei denen man dennoch noch einiges entdecken kann, weil sie einen ganz eigenen, unaufgeregten Zauber verströmen.
1901, Jeanne Mammen ist elf Jahre alt, zieht die Familie von Berlin nach Paris. Ihr Vater baut dort sein Textilgeschäft entscheidend aus, das großstädtische Leben beflügelt die Heranwachsende, sie plant, Künstlerin zu werden. Anders als in jenen Tagen üblich, legen die Eltern ihrer Tochter Jeanne, aber auch ihrer zwei Jahre älteren Schwester Maria Louise, keine Steine in den Weg, sondern unterstützen beide mit Kraft und Elan. Ausbildungen an Mal- und Zeichenschulen zunächst in Paris, dann aber auch in Brüssel und Rom folgen, anschließend eine Grafikerinnen-Ausbildung.
Jeanne Mammen ist 20 Jahre alt, als sie 1910 einen Zyklus von Blättern beginnt, in denen sich höchste Kunstfertigkeit und das subtil inszenierte Spiel mit der Todessehnsucht des Symbolismus jener Tage die Hand reichen. Sehen kann man das zu Beginn der Stader Ausstellung: „Frau am Kreuz“, „Der Totentanz“, „Selbstmörderin“. Alles sieht nach einer folgerichtigen Karriere aus. Doch die Zeiten stellen sich gegen sie: Der Krieg, von dem man noch nicht weiß, dass er Erster Weltkrieg genannt werden wird, beginnt, die Familie wird zu unerwünschten Ausländern erklärt und des Landes verwiesen.
Es geht über Belgien und Holland zurück nach Berlin, die ersten Monate wird Jeanne Mammen dort totunglücklich sein. Was soll sie in dieser provinziellen Stadt, die so tut, als sei sie eine Metropole? Sie wird lange eine solide Berlinverachtung pflegen: Berlin, na ja – Schwamm drüber. Erst als ab 1968 die Studenten, die Demonstranten und dann die Hippies über den Ku’damm laufen, findet Berlin in ihren Augen so etwas wie Gnade.
Davon aber ist sie im Berlin des Jahres 1915 noch weit entfernt. Sie hat keine Kontakte in Künstlerkreise mehr, erst recht keine Auftraggeber, spricht nur noch ein rudimentäres Deutsch. Sie ist doch Französin, Pariserin; gewissermaßen ins Exil verjagt. Doch dann geht sie auch in Berlin auf die Straße, mischt sich unter die Leute. Und sie zeichnet, was sie sieht: die Flaneure, die Kellner in den Cafés, die Zugehfrauen, die Zeitungsverkäufer, die Wichtigtuer und die Eckensteher.
Und bald illustriert sie für damals angesagte Magazine wie Die Dame, Ulk und – wichtig – den Simplizissimus. Ab 1920 können sie und ihre Schwester sich am Kurfürstendamm eine kleine Wohnung mieten. 55 Quadratmeter stehen den beiden zur Verfügung, zum Leben, Wohnen und Arbeiten. Fließend kaltes Wasser zwar, Toilette eine halbe Etage runter, aber es ist geschafft, sie verdient ihr Geld, ist im Geschäft, es wird besser und besser, so vergehen die Jahre.
Auch als freie Künstlerin kann sich Mammen allmählich etablieren: Höhepunkt ist eine Einzelausstellung 1930 in der Galerie Gurlitt. Und Gurlitt beauftragt sie sogleich, eine Sammlung mit homoerotischen Geschichten zu illustrieren, es soll eine Prachtausgabe werden, erste Vorzeichnungen und dann erste Lithografien entstehen. Aber wem will man diese Arbeiten ab 1933 anbieten? Und so sind kaum Blätter erhalten geblieben; Blätter wie eines, das nun in Stade hängt: ein halbbekleidetes Frauenpaar sitzt auf einem Bett, uns abgewandt, weil sich zugewandt, vordergründig flüchtig gezeichnet und von großer Genauigkeit.
Zwar lässt sich Mammen noch pro forma in die Liste der Reichskammer der bildenden Künste eintragen, zugleich meldet sie sich als arbeitssuchend. Was sie von den neuen Machthabern zu erwarten hat, erfährt sie über ihren Gefährten und Kollegen, den Bildhauer Hans Uhlmann. Mit ihm ist sie noch 1932 nach Moskau gereist, sympathisiert kurz mit den Errungenschaften der Sowjetunion.
Uhlmann wird im Oktober 1933 bei einer Flugblattaktion verhaftet und anschließend für fast zwei Jahre in der Haftanstalt Tegel weggesperrt. Sie besucht ihn regelmäßig; als er freikommt, unterstützen sie sich gegenseitig. Künstlerisch zieht sie sich offiziell zurück, nimmt weder Aufträge an noch kümmert sie sich um welche; gleichzeitig malt sie weiter in ihrer Atelierwohnung.
Sie arbeitet als Schaufensterdekorateurin und für das Reichsinstitut für Puppenspiel, wo sie Puppen anmalt. Aber erst, wenn die anderen ihren Feierabend machen, kommt sie und erledigt ihr Soll. Das ist ihre Art, sich nicht anzupassen und nicht aufzufallen.
Wichtig wird 1936 eine längere Reise mit Uhlmann nach Hamburg, schon vorher hat sie die Stadt immer wieder besucht und Gefallen an ihr gefunden – und das Stader Kunsthaus widmet ihrer Hamburg-Zuneigung eine ganze Etage, auch um sachte gegen das vorschnelle Bild einer alleinigen Berlin-Illustratorin anzugehen. Denn die Resultate jener Reise zeigen, wie die bisher so ausdrückliche Menschen-Zeichnerin den Zugang zur Abstraktion und besonders in de Kubismus findet, der ihr Werk ab den 1940er-Jahren prägt.
Es finden sich zunächst noch Zeichnungen von Kellnerinnen, von Damen-Kapellen, von Straßenszenen auf St. Pauli. Mehr aber noch widmet sie sich in diesen Jahren der Stadt als einem Ensemble aus Fluchten und stürzenden Linien, als einer lebendigen grafischen Konstruktion – in dem die Menschen als plakativ erkennbare Akteure alter Schule fehlen.
Sie treten anders und befremdend in die Welt: als fragmentierte Wesen, die es grundsätzlich neu anzuschauen gilt, die wieder zum Leben erweckt werden müssen wie im Bild „Polnische Bäuerin im Krieg“ von 1942. Nur engsten Freunden zeigt sie dieses und andere Werke in ihrem Wohnatelier am Kurfürstendamm. Im April 1976 stirbt Jeanne Mammen.
Ausstellung „Jeanne Mammen. Alles zu ihrer Zeit“: bis 3. 5., Kunsthaus Stade
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