piwik no script img

Gefährliche Grauzone

In ihrem Roman „nichts, was uns passiert“ erzählt Bettina Wilpert eine erschreckend alltägliche Geschichte sexualisierter Gewalt. Im Thalia Gaußstraße macht Simone Geyer aus dem Stoff ein Stück über Glaubwürdigkeit auf dem Prüfstand

Projektions­fläche für Erinnerungen: Immer wieder flimmern Video- Einspieler über die leere Wand Foto: Fabian Hammerl

Von Katrin Ullmann

Es war im Mai“, sagt sie. Die erste Begegnung mit Jonas, auf den Treppenstufen der Bibliothek, eine Zigarettenpause unter Studenten. „Es war im Juni“, sagt er. Da habe er Anna bei einem Public Viewing in einem Biergarten in Leipzig-Connewitz getroffen. Mehrere Meter stehen die Schauspieler in der Garage des Thalia-Theaters in der Gaußstraße voneinander entfernt, als sie die Erinnerung ihrer Figuren rekapitulieren, die je eine eigene Wahrheit erzählen. Es braucht nur diese beiden Sätze, um zu zeigen, wie subjektiv die Erinnerung ist, wie schnell sie vernebeln und verschwimmen kann. Rosa Thormeyer und Merlin Sandmeyer stehen da mit dem Rücken zum Publikum, blicken gegen die weiße Wand, in die Ferne.

Eigentlich ist es ja auch egal, ob es im Mai war oder im Juni. Ganz sicher war es Sommer, war es warm, war es die Zeit der Fußball-WM. Später aber, wenn es darum geht, ob Jonas Anna in der Nacht vom 4. Juli vergewaltigt hat, wird die subjektive Erinnerung zur gefährlichen Grauzone, wird die Dehnbarkeit der Wahrheit gruselig und birgt eine Gewalttat. Dann folgt daraus eine Anzeige oder, wie es andere nennen, eine Falschbeschuldigung.

Doch bis dahin vergehen in Bettina Wilperts Debütroman „nichts, was uns passiert“ (Verbrecher-Verlag 2018, 170 S., 19 Euro, E-Book 9,99 Euro) noch ein paar unbeschwerte Wochen. Die Protagonisten erleben laue Sommerabende mit WM-Spielen, Wodka aus dem Späti und Gesprächen über ukrainische Popliteratur. Irgendwann verbringen sie eine Nacht miteinander, einvernehmlicher Sex. Ein One-Night-Stand, „mit wenig Dynamik“, weiter nichts.

Regisseurin Simone Geyer hat aus dem Stoff gemeinsam mit der Dramaturgin Hannah Stollmayer eine temporeiche Fassung gemacht. Leichtherzig rauschen Thormeyer und Sandmeyer mit ihren Figuren durch diesen Sommer. Sie filmen sich mit dem Handy, flitzen dabei lachend raus, plaudern draußen am Fahrrad, vergraben die Hände tief in die Jackentaschen, kichern verlegen und stecken sich Zigaretten an.

Ein Opfer, mit diesem Begriff wird die Roman- und Theaterfigur später hadern, ist Anna nicht. Wilpert hat sie im Roman nicht als solches angelegt und Thormeyer spielt sie mit ausreichend Selbstbewusstsein, mit fröhlicher Energie, wütender Erregbarkeit und einer irritierenden Unberechenbarkeit. Streckenweise vergisst man die Theaterbühne als Kunstraum, meint ihre WG und ihre Sorgen zu kennen und neben ihr am Büffet zu stehen, wenn sie auf jener verhängnisvollen Gartenparty mit Jonas über den Geschmack von Mousse au chocolat streitet. Dass sie unruhig ist und oft genervt, denkt man, dass sie lustig ist, aber auch sprunghaft, dass man mit ihr bis in die Morgenstunden feiern kann, dass sie zu viel und zu schnell trinkt.

Simone Geyer, von 2016 bis 2019 Regieassistentin am Thalia-Theater, inszeniert den Abend nahezu ohne Requisiten. Es gibt weder Schnapsgläser noch Matratzen, weder Bierbänke noch Gartenlaube. Der Raum von Mona Maria Hartmann ist eine weiß ausgekleidete, leere Spielfläche, eine Projektionsfläche für Erinnerungen und für die Live-Videos vom Handy. An der Rückwand sind hin und wieder Einspieler zu sehen, in denen Familie, Freunde und Bekannte mit ihren Einschätzungen zu „der Sache“, wie Anna die Vergewaltigung später nennt, zu Wort kommen.

Auf jener Gartenparty stecken die beiden in unförmigen Kostümen, eine Zitrone und eine Orange sind sie. Sie singen „Roxanne“ von Police, sind albern und ein bisschen durchgedreht, wirken vertraut. Thormeyer saust mit der Nebelmaschine durch den Raum, tanzt, wankt, lacht und singt. An diesem Abend hätten sie sich nicht geküsst, sagt sie. Und er: „Es war kein guter Kuss. Anna schmeckte nach Alkohol.“

Wilpert, Jahrgang 1989, erzählt in ihrem vielfach ausgezeichnetem Debüt eine erschreckende, weil fast schon alltägliche Geschichte sexualisierter Gewalt. Für die Autorin selbst ist es ein Roman über eine Vergewaltigung, nicht über ein Missverständnis zwischen einer Frau und einem Mann mit betrunkenen Köpfen.

Regisseurin Simone Geyer lässt den Zuschauer darüber absichtlich im Unklaren. Zu jener Tatnacht inszeniert sie kein konkretes Bild. Stattdessen lässt sie die Schauspieler aus ihrer Erinnerung sprechen, die trügerischer wird, je länger sie zurückliegt. Wenn Anna nervös von der Vergewaltigungsnacht erzählt, dann ist Rosa Thormeyers Stimme zittrig und beherrscht zugleich. Unsicher fasst sie sich ins Haar und es scheint, als bekäme sie sogar hektische Flecken im Gesicht. Er, Jonas, jetzt der Täter, ist da auch im Raum. Irritiert weicht Sandmeyer vor der Anschuldigung zurück. Kurz darauf ist er derjenige, der die Rolle des drängend fragenden Polizisten übernimmt, bei dem Anna Anzeige erstattet, was sie später bereut.

Ein Abend, eine Vergewaltigung, ein Abend, zwei Erinnerungen: „Als sie es merkte, wehrte sie sich, aber er war stärker, drückte sie an den Handgelenken in die Matratze. Er drang in sie ein. Irgendwann gab sie den Widerstand auf“, erzählt Anna. „Es war einvernehmlicher Sex“, erinnert sich Jonas.

Geyer gelingt es, in ihrer Inszenierung eine schimmernde Grauzone herzustellen. Wie im Roman gibt es Opfer und Täter, zwei Fronten, zwei Versionen einer Geschichte und eine alles zerstörende, nichts klärende Anzeige. Und doch bleiben die beiden Figuren den ganzen Abend über sympathisch, undurchschaubar und vor allem auf eine gefährliche Weise waghalsig verspielt. Gibt es zwei halbe Wahrheiten, die hier fatal aufeinandertreffen? Am Ende ist alles wie zu Beginn. Rosa Thormeyer und Merlin Sandmeyer stehen da mit dem Rücken zum Publikum, blicken gegen die weiße Wand und in die Ferne. „Hast du Zigaretten?“ Und das „Spiel“ beginnt von vorn.

„nichts, was uns passiert“: Mo, 24. 2., 19 Uhr, Thalia Gauß/Garage (mögl. Restkarten an der Abendkasse); weitere Termine: 8. 3., 5. 4.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen