Migranten erzählen deutsche Geschichte

In NRW entsteht ein einzigartiges Tonarchiv: Einwanderer erinnern sich an ihre ersten Eindrücke von Deutschland

„Deutschland braucht keine Kinder, Deutschland braucht Arbeiter.“ Diesen Satz musste sich Meliha C. vom deutschen Arzt beim Arbeitsamt in der Türkei anhören, als sie Mitte der 1960er Jahre als Gastarbeiterin mit ihrem Kind nach Deutschland wollte. Weil sie darauf beharrte, erklärte die Behörde die kerngesunde Postbeamtin beim Gesundheitscheck eben als untauglich. Wenn die heute 67-Jährige diese Untersuchung beschreibt, entstehen beim Zuhörer Bilder von Sklavenmärkten: „Die haben uns streng untersucht, Zähne bis was weiß ich, mehrere Menschen waren nackt in einem Raum, man hat uns nackt gesehen, von vorne, von hinten, das war sehr erniedrigend.“

Die Geschichte ihrer hürdenreichen Einwanderung nach Deutschland ist Baustein des „migration-audio-archivs“, das die Historikerin und WDR-Redakteurin Sefa Suvak zusammen mit ihrem Kollegen Justus Herrmann aufbaut. In der Tradition der angloamerikanischen „Oral History“ lässt sie hunderte von Migranten und Migrantinnen über ihre Einwanderung nach und ihr Leben in Deutschland berichten. Die Westfälische Stiftung für Umwelt und Entwicklung fördert das Projekt.

„Es ist ein Stück deutsche Zeitgeschichte von der Peripherie aus gesehen“, sagt Initiatorin Suvak – bisher sei das wohl einzigartig. Bei ihrer Recherche in England und Amerika, wo schon lange Geschichten von „einfachen Bürgern“ vertont werden, habe sie kein Tonarchiv mit Migrantenerzählungen gefunden. Diese Lücke wollte Suvak in Deutschland nicht entstehen lassen, denn Einwanderer könnten den Blick der Deutschen auf Deutschland ergänzen: „Die Migranten haben den Aufbau nach dem Krieg und die Studentenbewegung der 68er auch miterlebt“, so Suvak. Es sei nicht immer einfach gewesen, die persönliche Geschichte der Menschen in das Zeitgeschehen einzubetten: „Die Männer habe ich gebeten von ihren Gefühlen zu sprechen, die Frauen habe ich gefragt, was damals in Deutschland passiert ist“, sagt die Journalistin.

Viele ihrer Protagonisten sind aus der ersten Einwanderergeneration, wie auch die 53-jährige Dragana K. „Wir lieben dieses Land“, sagt die Ärztin, die sich in Köln heimisch fühlt. „Möchten Sie nicht irgendwann zurückkehren?“, sei die allerschlimmste Frage. Während der Belagerung Sarajewos floh sie mit ihren Kindern und kam durch Zufall nach Münster. Auch der Angolaner Rigo, der in Essen lebt, hat sein Land unfreiwillig verlassen. Der 40-Jährige beschreibt seine ersten Jahre in Nordrhein-Westfalen, bevor er endlich als Asylbewerber anerkannt wurde. „Wir durften nicht zur Schule gehen, nicht arbeiten, das Leben war hart mit verschiedenen Isolationssystemen“. Er sei kaum aus seinem Duisburger Asylbewerberheim herausgekommen: Dort gehe das Leben langsam, ein Tag zähle. Rigo lässt die ZuhörerInnen am Radio mitfühlen.

Demnächst sollen die Geschichten der Migranten und Migrantinnen auch im Internet zu finden sein. Außerdem planen die Initiatoren eine Audio-Lounge einzurichten – ein Wandersofa mit eingebautem CD-Player soll so die Geschichten auch in andere Bundesländer transportieren. Am Sonntag sendet WDR5 frühmorgens die erste Folge der Reihe: „Erlebte Geschichten – Einwanderer erzählen aus ihrem Leben in Deutschland“ NATALIE WIESMANN