Geschlossene Gesellschaft

Das Theater für Niedersachsen versucht sich an Sinan Ünels türkischer Familiensaga „Pera Palas“ – leider viel zu holzschnittartig

Kofferstapel: Sonst erinnert auf der Bühne nichts ans legendäre Grandhotel Pera Palas Foto: Jochen Quast

Von Jens Fischer

Agatha Christie hat dort Krimi-Geschichten geschrieben, Mata Hari Spionagegeschichten verheimlicht, Greta Garbo Liebesgeschichten inszeniert, Mustafa Kemal Atatürk politisch Geschichte geschrieben. Das Istanbuler Pera Palas war als Grandhotel für die aus Paris mit dem Orientexpress nach Konstantinopel gereisten Europäer erbaut worden, die einen prunkvollen Rückzugsort suchten, bevor sie sich aufmachten ins angebliche Märchenreich der Derwische und Sultane, Hammams und Harems.

In der Luxusherberge trafen sich Orient und Okzident – Monarchen, Politiker, Industrielle, Künstler. Ein idealer Ausgangspunkt, um die gesellschaftlichen Um- und Aufbrüche der Türkei vom Ersten Weltkrieg bis in die 1990er-Jahre zu erzählen. Drei einander kommentierende Handlungsstränge hat der US-türkische Dramatiker Sinan Ünel elegant zu seiner Familiensaga „Pera Palas“ verwoben.

Bettina Rehm brachte sie am Theater für Niedersachsen in Hildesheim zur Premiere, mit türkischen O-Tönen geschmückt und mit dem Anspruch, politisch aktuell etwas über das konservativ-islamische Rollback alla turca zu erzählen.

Eine andere Elite erscheint

Anknüpfungspunkte bietet der 3. Akt. Der mit der US-Amerikanerin Kathy verheiratete, progressiv westlich denkende Geschäftsmann Orhan sagt, ihm drohe Gefängnis. Ohne dass genau klar wird, warum. Ein Regimekritiker? Politisch ist seine Sicht der Türkei. „Überall werden die Reichen reicher und die Armen ärmer. Wir stehen in einer unüberwindlichen Schuld. Schlimmer noch, wir werden von dem Erscheinen einer islamischen Elite geplagt. Den Fundamentalisten“, sagt er, „als wären die Geister aus den Gräbern auferstanden. Sie wollen den Religionsunterricht in den Schulen wieder einführen. Sie wollen die Theater schließen und die Bilder von Atatürk abhängen.“

Geschrieben wurde das Stück 1995, in New York 1998 uraufgeführt, angesiedelt ist die Szene im Jahr 1994, in dem Erdoğan zum Oberbürgermeister von Istanbul gewählt wurde und seinen reaktionären, nationalistischen Feldzug wider demokratische, rechtsstaatliche, laizistische Standards starten konnte. Für diese Koinzidenz wird das Werk als prophetisch gehandelt. Aber viel mehr als die zitierten Sätze ist dem Text nicht zu Erdoğan zu entlocken – in der Figur des Orhan aber wird tiefe Verunsicherung deutlich, Heimatverlorenheit. Deutlich wird das in der Begegnung mit dem verlorenen Sohn Murat. Der ist schwul, lebt in den USA, kommt mit seinem Freund zu Besuch. Papa Orhan gibt sich aufgeklärt, tolerant.

In die Dialoge eingeschrieben ist aber der Schmerz, dass Murat nicht dem traditionellen Männerbild entspricht. Eine „Blamage“ nannte Orhan seinen Sohn, „ich wünschte, ich wäre nicht mal mit dir verwandt“. Und zeigt so, dass seine liberale Identität nur eine mühsam gewahrte Maske ist. Parallel lässt Rehm eine Szene aus seinen 1950er-Jugendjahren spielen, in der Orhan ein Job in einem US-Unternehmen versagt wird, weil er Türke ist – und er daraus den Schluss zieht, nie gleichberechtigt mit Menschen der westlichen Kultur zu sein und dass das imperiale Amerika als Utopie nicht taugt. Weswegen er seine türkischen Wurzeln weiter wuchern lässt.

Daraus könnte ein aktuelles Statement abgleitet werden: Dass die gesellschaftliche Öffnung Atatürks etwas Übergestülptes war; dass ihr Denken nicht im Grundsatz verändert wurde, sodass Werte, Verhaltensmuster und osmanisches Großmachtsdenken von einst überlebten.

Aber das herauszuarbeiten, gelingt der Regie nicht. Auch weil die Figur des Orhan, durch die der Riss des Landes, der Geschichte geht, sowohl in der Jugend- wie Seniorausgabe so bollerig boulevardesk gespielt wird, dass er als ernstzunehmendes Beispiel der Verlorenheit eines zwischen Tradition und Moderne zerrissenen Landes nicht funktioniert.

Wie leider die ganze Aufführung mit ihrem betulichen Tempo, der implantierten Wehmutsmusik und -poesie, ziemlich statischer Regie und großenteils holzschnittartig klischeehaften Rollengestaltungen enttäuscht. Gerade wie derb Jonas Kling aus Murats Freund eine Witzfigur schwuler Stereotypen macht, das geht gar nicht.

Von leidenschaftlicher Präsenz immerhin wie Dennis Habermehls Murat den Kampf mit dem Vater austrägt. Verblüffend bieder aber, wie die Inszenierung zwischen Scherz, Ironie und tragischer Bedeutung scheitert. Die Bühne Julia Hattsteins nimmt kaum Bezug auf das Pera Palas, ist wegen Unbehaustheit des Personals mit einer lockeren Schüttung an Koffern gestaltet, die auch schön zu stapeln sind, um dann bei Wutanfällen umgeschmissen werden zu können.

Atatürk-Feier

Prima funktioniert das Stück als Geschichtsunterricht und Feier des Vermächtnisses des Europäisierers Atatürk – also werden etwa die Kriminalisierung der politischen Linken und die Völkermordkampagnen gegen Armenier und Kurden ignoriert. In den 1918 bis 1924 spielenden Szenen ist zu erleben, wie eine Feministin junge Frauen im Harem eines Paschas vom Kampf für ein selbstbestimmtes Leben überzeugen, zugleich aber auch die türkische Kultur nicht verdammen will. Beides erfolglos.

Die 1950er-Jahre-Szenen erzählen von Vorurteilen älterer Türken über „Ungläubige“ und Vorurteilen junger Westler über die „stinkende Hölle“ der Moslems sowie von der US-Lehrerin Kathy, die mit dem Amerika-fixierten Orhan als Liebhaber ein Leben in 1001 Nacht und westlicher Zivilisation erhofft. Ein Spagat, der scheitert. In den 1990er-Jahren gibt es nur noch haltlose Menschen, sie saufen, schreien, verzweifeln, resignieren. Was überwunden schien, kehrt verschleiert zurück.

„Pera Palas“: Do, 20. 2, 19.30 Uhr, Hildesheim, Theater für Niedersachsen; weitere Termine und Spielorte: www.tfn-online.de