Die Flaute der 100 Tage

In Schleswig-Holstein regiert seit April eine große Koalition. Viel passiert ist seitdem nicht. Während Peter Harry Carstensen den Landesvater mimt, blockieren sich CDU und SPD gegenseitig und machen gute Miene zum bösen Spiel. Die drei Oppositionsparteien sehen zu und warten auf den ersten Zoff

von Esther Geißlinger

Neulich hat Peter Harry Carstensen ein Flugzeug gerettet. Zumindest hat er dafür gesorgt, dass es wieder fliegen durfte: Es stand nach einer Notlandung auf dem Amrumer Kniepsand, für den Start fehlte eine Genehmigung, der Besitzer bat den Ministerpräsidenten um Hilfe, der regelte die Sache und sagte: „Warum habt ihr euch nicht gleich an mich gewandt?“ So isser, der neue Landesvater: Die Ohren offen für die Sorgen seiner Schleswig-Holsteiner, breites Lächeln, jede Menge Energie. 100 Tage ist der 58-Jährige im Amt, das Regieren macht ihm mächtig Spaß und echte Fehler hat er bisher – mangels Gelegenheit – nicht gemacht.

Vor allem nicht intern: Am Kabinettstisch ist Carstensen der große Integrator. „Erstaunlich gut“ laufe die Zusammenarbeit, sagt eigentlich jeder, und bei den meisten schwingt darüber Verblüffung mit. Denn ob die eher linke Schleswig-Holsteinische SPD und die CDU, die zuletzt einen Ministerpräsidenten Uwe Barschel stellte, harmonieren, war die entscheidende Frage gewesen, unter der die große Koalition startete. „Pragmatisch, professionell“ lauten die Adjektive, mit denen Mitglieder der Regierung die Zusammenarbeit beschreiben. Man liebt sich nicht gerade – kein Wunder nach den 17 Jahren, in denen die SPD auf den Regierungssesseln saß und die CDU auf den Oppositionsbänken – aber man zieht das Ding zusammen durch.

In den Fraktionen ist die Lage schwieriger als bei den Ministern, die sich regelmäßig am Kabinettstisch treffen. „Fair und sachorientiert“, kommentiert der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Jürgen Weber. „Inhaltliche Unterschiede sind natürlich noch nicht ausgeräumt.“ Klarer sagt es jemand anderes im Gespräch unter vier Augen: „Es ist schwer, bei Leuten zu klatschen, die man vor Wochen noch bekämpft hat.“

Ein Störfall im Kabinett ist nur der Wirtschaftsminister Dietrich Austermann, der mit dem Prädikat „der neue starke Mann der Regierung“ angetreten ist. Der 63-Jährige neigt dazu, unabgesprochene Dinge zu sagen und zu tun: Zuletzt verriet er die Verhandlungsposition des Landes zum Streit um den Lübecker Flughafen. Und seine Ministerkollegen beäugen misstrauisch, wie Austermann mit dicken Spendierhosen durch die Lande zieht und Dinge verspricht, die – wenn überhaupt – aus den Fachministerien kommen sollten. Ob die Versprechen einzulösen sind, ist mehr als fraglich.

Zwischen anderen roten und schwarzen Ministerien aber gibt es wundersame Kooperationen, und was unangenehm ist, wird einfach ausgespart. Das allerdings könnte ein Manko werden: Bleiben zu viele Themen und Fragen unausgesprochen auf dem Tisch liegen, kann der irgendwann unter der Last zusammenklappen. Vor allem: Es sind wichtige Felder, die die schwarz-rote Regierung nicht beackern kann, weil die Unterschiede zu groß sind. Das führt zu halbherzigen Kompromissen – Beispiel Schulpolitik. Die SPD will die Gemeinschaftsschule einführen. Die CDU hingegen will das getrennte System behalten. Der schwarz-rote Kompromiss: Alles bleibt, wie es ist – angesichts von Pisa und Kinderschwund der denkbar schlechteste Weg.

Etwas wirklich Greifbares geschafft hat die Regierung in den ersten 100 Tagen nicht. Dafür gibt es Gründe: Der Wahlkampf war aufreibend, die Koalitionsverhandlungen erst in der einen, dann in der anderen Konstellation haben Kräfte geraubt, und die Truppe, die vor 100 Tagen in die Ministerien einzog, brauchte eine Weile, um sich zu berappeln und mit der neuen Lage fertig zu werden. Als es mit der Arbeit hätte losgehen können, brach unerwartet der Bundestagswahlkampf aus – nichts lähmt die Tagespolitik mehr. Bis zum 18. September ist von Schwarz-Rot Kiel nicht viel zu erwarten.

Aber ein bisschen was gab es ja doch. Es ist schon interessant, welche Themen die Regierung Carstensen als erste auf die Agenda setzte. Der Landwirtschafts- und theoretisch auch Umweltminister Christian von Boetticher will Kormorane abschießen, Knicks plätten und genmanipulierte Pflanzen aussäen. Die erhoffte große Verwaltungs- und Strukturreform beginnt nicht etwa damit, dass Kreise zusammengelegt werden, sondern mit der Halbierung der Stellen hauptamtlicher Gleichstellungsbeauftragter – das Thema wird in der nächsten Landtagssitzung behandelt und soll bereits entschieden sein. Arbeitslosen-Selbsthilfegruppen sollen keine Mittel mehr erhalten. Pflichtprogramm waren die Haushaltspläne, der Nachtrag für 2005 und der Entwurf für 2006. Wie sie umgesetzt werden, wird die spannende Frage der nächsten 100 Tage – und dann wird sich zeigen, ob Carstensen nicht nur notgelandete Cessnas, sondern auch Schleswig-Holstein in die Höhe bringt.