berliner szenen Top Secret

Ausgestellt

Das Schaufenster der Galerie Tristesse gleicht einem riesigen gepufften Reiskorn, in dessen Inneren zwei emsige Engel sitzen. Ein Engel, Sandra Spannan, malt die Gesichter der Vorübergehenden, die durch das Glas starren. Laura Barnett neben ihr tippt mit dem Zeigefinger an die Aufforderung, die auf der Scheibe steht: Ich soll mein größtes Geheimnis aufschreiben, „kostenlos und anonym“. Drinnen in der Galerie hängen Porträts von New Yorkern, die genauso aussehen, wie man sich New Yorker auf den Straßen in einem Film von Woody Allen vorstellt. Auf der gegenüberliegenden Wand ihre Heimlichkeiten, handschriftlich auf Zetteln, rote „secret“-Stempel darauf. Nach dem ersten Zettel werde ich prompt gierig nach mehr.

Manches ist anrührend und traurig: „I drink myself to sleep every night.“ Manches ist angenehm gruselig: „I pick my nose while at the movies. I wipe the boogers on the back of the front seat.“ Es geht um den erleichternden Tod anderer, um Körperflüssigkeiten und -gerüche, Sex und Einsamkeit, hier und da auch darum, sich selbst vorzuführen und zu kokettieren.

Mir selbst mag auf Teufel komm raus kein Geheimnis einfallen, das mir unsagbar oder bestürzend oder folgenschwer genug erschiene. Mag sein, ich wage es einfach nicht. Ich ertappe mich lediglich dabei, wie mir ähnliche Geheimnisse wie die der New Yorker dämmern: Zu Kindergartenzeiten popelte ich Balg vor dem Einschlafen gern in der Nase und schmierte die Schätze an das kühle Furnier der Spanplatten-Rückseite meines Jugendzimmmerbettes. Worauf ich jetzt wild bin: Jeden Tag die Schlesische Straße entlang zu fahren, um mehr und mehr Geheimnisse und Gesichter der Stadt zu schauen. JANE FRÄNZEL