„Europa gibt sich ahnungslos“

Die Angriffe gegen die polnische Minderheit in Weißrussland dürfen dem Lukaschenko-Regime nicht verziehen werden. Die Europäische Union muss konkrete und ernsthafte Maßnahmen ergreifen, um Druck auszuüben

taz: Nach unabhängigen Medien, Oppositionellen, Diplomaten und aufmüpfigen Jugendlichen knöpft sich Präsident Alexander Lukaschenko jetzt die polnische Minderheit vor. Was steckt dahinter?

Uladzimir Kolas: Das Regime provoziert bewusst einen Konflikt und Spannungen, um die Schraube im Land noch weiter anzuziehen. Es geht jetzt darum, einen äußeren Feind zu finden, um damit den Druck auf unabhängige Organisationen in Weißrussland weiter zu erhöhen und eine Verschlechterung der Menschenrechtslage zu rechtfertigen. Ich sehe darin eine klare Vorbereitung, um die Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr wieder fälschen zu können.

Die derzeitigen Repressionen haben aber eine andere Qualität, denn die Weißrussen polnischer Herkunft haben in der Regierung in Warschau einen Anwalt. Wie wird dieser Konflikt enden?

Wenn man an ähnliche frühere Skandale denkt, würde ich sagen: alles wird sich wieder beruhigen und im Nichts enden. Vielleicht werden irgendwelche Resolutionen verabschiedet, der Skandal zu den Akten gelegt und alles wird so sein, wie es war. Die Diplomaten kommen zurück, der Konflikt wird beigelegt und die Beziehungen werden auf diesem Niveau weitergeführt, wenn auch nicht gerade freundschaftlich. Darauf setzen diejenigen von weißrussischer Seite, die diesen Skandal initiiert haben.

Immerhin fordert Polen jetzt von der Europäischen Union Unterstützung bei der Verteidigung der Rechte der polnischen Minderheit in Weißrussland …

Dass es Europa offensichtlich nicht egal ist, was hier passiert, ist für uns schon sehr wichtig. Deshalb sind einige von uns überhaupt noch am Leben und in Freiheit. Doch was es jetzt braucht, sind konkrete und ernsthafte Maßnahmen der Europäischen Union, um Druck auszuüben. Dieses Verhalten darf den Verantwortlichen des Regimes nicht verziehen werden.

Weißrussland steht in Brüssel nicht gerade weit oben auf der Agenda. Wie erklären Sie diese Zurückhaltung?

Europa gibt sich in gewisser Weise ahnungslos, es hat ja auch genug eigene Probleme. Und solange die Europäische Union nicht direkt von den Ereignissen betroffen ist, wie jetzt Polen, versuchen die Verantwortlichen nicht daran zu denken, dass nebenan ein diktatorisches, totalitäres Regime existiert. Sich keine neuen Probleme schaffen, ist die Devise. Doch diese Position ist kurzsichtig. Man braucht sich bloß die Geschichte des 20. Jahrhunderts anzusehen, um zu begreifen, wie gefährlich eine tolerante oder gleichgültige Haltung gegenüber einer Diktatur in der Nachbarschaft ist. Das kann für ganz Europa böse enden.

Der Druck von außen ist eine Sache. Aber was ist mit der weißrussischen Opposition, zumal es jetzt ja auch mehr Öffentlichkeit gibt?

Unser Problem ist, dass die Staatsmacht immun ist gegen jegliche Art von zivilisiertem und demokratischem Protest. Die Vertreter der Staatsmacht haben schon seit langem bestimmte Barrieren überschritten, moralische und ethische. Sie erkennen nur das Prinzip von Macht an und sie haben die ganze Macht in ihren Händen konzentriert, alle Ressourcen unter sich aufgeteilt und sich des Landes bemächtigt. Auf zivilisiertem und demokratischem Weg wollen sie diese Macht keinesfalls abgeben. Deshalb haben bestimmte, traditionelle Aktionsformen der Opposition in Weißrussland überhaupt keinen Nutzen.

Welche Aktionsformen meinen Sie?

Zum Beispiel Wahlen. Die werden bei uns gefälscht. Deshalb hat die Opposition keine Chancen, real Einfluss zu nehmen, und zwar so lange nicht, wie sie auf gesetzliche und zivilisierte Art und Weise agiert. Sie spielt nach Regeln, gegen sie wird nach überhaupt keinen Regeln gespielt. Zudem hat sie keinerlei eigene Ressourcen.

Dass sich die Opposition in Weißrussland in einer extrem schwierige Lage befindet, steht außer Frage. Sehen Sie trotzdem eine Möglichkeit, die Menschen zu mobilisieren, oder anders gefragt: Ist ein ukrainisches Szenario vorstellbar?

Das Problem ist nicht, dass die Weißrussen ängstlicher wären als die Ukrainer. Doch die Menschen haben etwas zu verlieren. Denn die Lebensbedingungen sind hier immer noch besser als in der Ukraine oder in Georgien. Die Kaufkraft reicht aus, um ein Lebensniveau aufrechtzuhalten, das zwar niedrig ist, an das sich die Mehrheit der Weißrussen aber gewöhnt hat. Und die Menschen haben Angst, auch noch dieses Wenige zu verlieren. Deshalb sind im Moment wohl keine Massendemonstrationen oder gar Aufstände zu erwarten. Die wirtschaftliche Situation ist natürlich künstlich geschaffen. Denn hier werden die Gesetze genauso verletzt wie in anderen Bereichen auch. Doch die Aufrechterhaltung dieser Situation verdankt sich auch der Hilfe Russlands und des Westens. Für einige Unternehmen ist es sehr profitabel, unter solchen Bedingungen Geschäfte zu machen.

Welche Rolle spielt Russland?

Schwierig zu sagen. Was die jüngste Krise angeht, ist festzustellen, dass die Aktionen gegen die polnische Minderheit nach dem Besuch von Präsident Alexander Lukaschenko in Moskau begonnen haben. Was sich dort abgespielt hat, weiß keiner, doch offensichtlich gibt es eine Verbindung. Zumindest scheint sich Lukaschenko für sein Tun der Rückendeckung aus Moskau sicher zu sein.

INTERVIEW: BARBARA OERTEL