Demokratie geht auch anders

Als Demokratie gilt heute ein politisches System, in dem Bür­ge­r:in­nen die Wahl haben zwischen verschiedenen Parteien. Die haben allerdings keinen guten Stand: Im Eurobarometer vom Herbst 2019 bekundeten zwei Drittel der Deutschen, kein Vertrauen in politische Parteien zu haben. Diese scheinen viel zu viel mit Personalfragen und sich selbst beschäftigt, während die Probleme draußen immer drängender würden.

Auch an die Vorstellung, das Parlament sei ein Ort des Austauschs von Argumenten, glauben viele nicht mehr. Die meisten Abstimmungsergebnisse stehen ja in der Tat oft schon vorher fest. Die Mehrzahl der Gesetzentwürfe stammt von der Exekutive und lässt sich weder durch kluge Hinweise von Fachleuten noch von Abgeordneten wirklich ändern. Finanzkräftige Lobbygruppen dagegen können politische Entscheidungen massiv beeinflussen. „Unsere politischen Systeme können als demokratisch bezeichnet werden, doch demokratisch regiert werden wir nicht“, schreibt der französische Historiker Pierre Rosanvallon, in dessen Land das traditionelle Parteiensystem vor einigen Jahren geradezu implodiert ist.

Das fehlende Vertrauen in Parteien ist aber keineswegs ein Argument gegen die Demokratie an sich. Politikprofessor Eike-Christian Hornig von der Uni Gießen hat festgestellt, dass es in der deutschen Bevölkerung nach wie vor eine große Wertschätzung für die Demokratie und demokratische Werte gibt.

Das Grundgesetz legt in Artikel 20 fest: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ In Artikel 21 heißt es weiter: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“ Ganz klar also, wer hier Koch und wer Kellner ist: Das Volk ist der Souverän, die Parteien dürfen „mitwirken“.

Wie aber könnte Demokratie anders gestaltet werden? Die ersten Demokratien entstanden vor 3.000 Jahren – und weder Parteien noch Wahlen sind notwendiger Teil des Konzepts. Im antiken Athen wurden fast alle politischen Positionen ausgelost, Regierende und Regierte waren eine Gruppe.

Auch gibt es andere Formen der Entscheidungsfindung als Mehrheits- und Ja-Nein-Abstimmungen. Die Vorstellung, dass Demokratie und Marktwirtschaft wie siamesische Zwillinge zusammengehören, ist gleichfalls ein Kind unserer Zeit. Was die Demokratie braucht, ist kein wehleidiger Abgesang aufgrund einer angeblichen Politikmüdigkeit, sondern eine grundlegende Erneuerung. Annette Jensen

Das Volk
stimmt ab

Die Schweiz hat die mit Abstand ausgeprägteste direkte Demokratie der Welt. Sobald eine Gruppe von Menschen 100.000 Unterschriften zu einem Thema gesammelt hat, kann eine Volksabstimmung starten. Die Schweizer stimmen an jährlich vier Terminen über durchschnittlich zehn Gesetze, Initiativen oder Referenden auf Bundesebene ab und über noch mehr auf Kantons- und Gemeindeebene.

In den 26 Kantonen legen die jeweiligen Landesverfassungen fest, über was das Volk entscheidet. In manchen hat der Volkssouverän sämtliche kantonalen Gesetze mehrheitlich zu billigen, auch Finanzhaushalte und Steuersätze. Die Parlamente in den Kantonen Appenzell Innerrhoden und Glarus dürfen sogar nur beraten. Die eigentliche Gesetzgebung findet in „Landsgemeinden“ statt: Hunderte oder Tausende von Menschen diskutieren dann unter freiem Himmel über Gesetze und Finanzhaushalte.

Auf Bundesebene hat eine Volksabstimmung nur dann Erfolg, wenn sie die Mehrheit aller Stimmen („Volksmehr“) und die Mehrheit in den Kantonen („Ständemehr“) erhält. Ist das der Fall, muss das Parlament das Ergebnis beraten und gegebenenfalls in der Verfassung verankern. Ute Scheub

Beteiligung braucht einen Rahmen

Partizipation ist bei Po­li­ti­ke­r:in­nen in Mode – allein im Berliner Koalitionsvertrag taucht der Begriff 16-mal auf. Tatsächlich steckt in solchen Beteiligungsprozessen das Potenzial, das soziale Vertrauen in die Demokratie zu stärken. Machen Engagierte allerdings die Erfahrung, dass sie trotz des Verfahrens nichts beeinflussen können, geschieht das Gegenteil.

Wie es nicht laufen sollte, lässt sich am ehemaligen Tempelhofer Flughafengebäude in Berlin studieren. Das Gebäude war einmal das größte der Welt und steht heute überwiegend leer. Im Mai 2018 verkündete die zuständige Senatorin Katrin Lompscher (Linke): „Öffnen, Experimentieren!“ Die Grundrisse aller 7.269 Räume sollten frei zugänglich werden. Die Verwaltung startete ein Partizipationsverfahren und zeigte sich auch offen für die Einrichtung eines Ernährungscampus, den der Berliner Ernährungsrat und die Initiative thf.vision für einen Gebäudeteil vorgeschlagen hatten. Dutzende Menschen engagierten sich ehrenamtlich, entwickelten Konzepte und knüpften Kontakte.

Neun Monate lang arbeiteten Bür­ge­r:in­nen kostenlos in ihrer Freizeit beim offiziellen Partizipationsverfahren mit. Dann bemerkte der bezahlte Dienstleister plötzlich, dass die Fragestellung unklar war – eine Tatsache, auf die Kri­ti­ke­r:in­nen von Anfang an hingewiesen hatten. Der Prozess wurde auf Eis gelegt.

Auch die Aussichten für den Ernährungscampus sind trübe: Die Verwaltung beklagt den schlechten Zustand des Gebäudes und will nun erst einmal 5 bis 15 Jahre lang alleine sanieren nach einem intern entwickelten Konzept. Bis heute sind die Gebäudepläne unveröffentlicht, von Partizipation ist nicht mehr die Rede. Die einzige experimentelle Nutzung, die gegenwärtig im Flughafengebäude stattfindet, ist das City Lab der Technologiestiftung. Dahinter stehen Firmen wie Siemens, Deutsche Bank und PricewaterhouseCoopers.

Damit Partizipationsverfahren erfolgreich sein können, gibt es allgemein bekannte Grundvoraussetzungen. So müssen Ziel und Gestaltungsspielraum von Anfang an klar sein; ebenso, was am Schluss mit den Ergebnissen passiert und wer darüber entscheidet. Auch ein Zeitplan und angemessene Ressourcen sind notwendig.

Außerdem müssen alle Beteiligten des Verfahrens einen verlässlichen Zugang zu Informationen haben, und auch der Ablauf und die Dauer des Prozesses müssen transparent und verhandelbar sein. Immerhin hat Berlin seit Kurzem offizielle Richt­linien für Partizipation. Nun kommt es auf die Umsetzung an. Annette Jensen

Per Los in den Bürgerrat

Wer die Parteiendemokratie aus ihrer Krise holen will, kann es mit direkter und konsultativer Demokratie versuchen: Bürgerräte können die Politik nur beraten, aber ihr Votum kann sehr machtvoll sein. Diese Gremien tagen öffentlich, sie betrachten und diskutieren ein Problem ausführlich und verfassen dann eine Stellungnahme oder ein Bürgergutachten.

Im US-Ölstaat Texas führte ein Bürgerrat zum Thema Zukunft der Energieversorgung dazu, dass dort heute mehr Windräder stehen als in jedem anderen Bundesstaat der USA. In Irland votierte ein Bürgerrat nach einjähriger Debatte mit großer Mehrheit für die Einführung der Homoehe. Die Bevölkerung folgte dem Votum in einem anschließenden Referendum, während fast gleichzeitig im katholischen Frankreich Hunderttausende gegen die von oben eingeführte Homoehe demonstrierten.

Wichtig bei Bürgerräten ist, dass die Beteiligten repräsentativ ausgelost werden: Falls zunächst vor allem alte weiße Männer oder vorwiegend junge schwarze Frauen ausgewählt werden, wird solange weitergelost, bis die Repräsentativität bei Geschlecht, Alter, Herkunft und Bildungsgrad stimmt. So vertreten die Ausgelosten die ganze Bevölkerung. Viele von ihnen beteiligen sich mit großer Freude, weil sie endlich etwas zu sagen haben – weil ihre Stimme gehört wird.

Der bundesweite Verein „Mehr Demokratie“ hat im Sommer 2019 einen 157-köpfigen, ausgelosten Bürgerrat zum Thema Demokratisierung der Demokratie organisiert. Die Beteiligten waren begeistert. „Großartig, die Idee mit dem deutschlandweiten Bürgerrat. Genau das brauchen wir jetzt: Mehr Demokratie zum Mitmachen“, kommentierte jemand hinterher. Bürgerräte seien „ein echtes Minideutschland, das ganze Land klein oder fein an einem Tisch“, so ein Beteiligter.

Zusammengefasst einigte man sich auf folgende Empfehlungen: Repräsentative Demokratie soll demnach durch direkte und konsultative Demokratie ergänzt werden. Ein bundesweiter Bürgerrat sollte gesetzlich verankert werden. Volksentscheiden wäre stets ein Bürgerrat vorzuschalten – wie in Irland. Bei Gesetzen sollte es ein Vetorecht durch Volksentscheide geben können – wie in der Schweiz. Und ein Lobbyregister könnte mehr Transparenz für das Parlamentsgeschehen herstellen.

Im November 2019 hat „Mehr Demokratie“ dem Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble (CDU) diese Empfehlungen überreicht. In seiner Antwortrede reagierte der sehr positiv: „Der Ansatz ist richtig. Und ­notwendig ist er auf jeden Fall.“ Schäuble versprach, sich im Bundestag für die Idee der Bürgerräte starkzumachen. Ute Scheub