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Lustvoll konfrontativ

Country und Anticountry: Bei Sturgill Simpsons Konzert im Columbia Theater wollten die Fans lieber alte Lieder

Von Jan Jekal

Bekäme man die Aufgabe, sich die Lebensgeschichte eines Countrysängers auszudenken, würde man sich wahrscheinlich Sturgill Simpsons Vita zusammenschustern. So viele Countryklischees in einer Biografie: in Kentucky geboren, schlecht in der Schule, dann Soldat, dann Eisenbahnarbeiter bei der Union Pacific Railroad, nebenbei erfolgloser Barmusiker, dann ein Umzug nach Nashville. Der Durchbruch bleibt aus – und kommt dann doch, aber erst, als er alles auf eine Karte setzt und für die Aufnahme eines Albums sein ganzes Geld verbrennt.

Letzten Freitagabend spielt Simpson im Columbia Theater. Es ist die Tour zu seinem vierten Album „Sound & Fury“, einer, wie er sie selbst nennt, „schmierigen, heißen Rock-’n’-Roll-Platte“. Auf dem Cover braust ein altes Auto durch eine apokalyptische Nacht, den schwarz-roten Himmel erhellt ein Atompilz. Als würde er das Stereotype seines Lebenslaufs aufheben wollen, hat Simpson ein Anticountryalbum gemacht, voll kreischender Glamgitarren, knarzender Synthesizer und unnachgiebiger Discobeats. Das Album hat seine Verteidiger – der Guardian gab die Höchstwertung und nannte es „mächtig, heftig, unwiderstehlich“ –, aber die Fans finden es offenkundig eher nicht so stark.

„Ihr wollt das Konzert sehen, das wir vor fünf Jahren gespielt haben, oder?“, fragt ­Simpson einmal. Er sagt es nicht unfreundlich, eher lustvoll konfrontativ. Es gibt wohl wenig Frustrierenderes für einen Musiker, als mit einem neuen Album zu touren und dann einem Publikum gegenüberzustehen, das in die Pausen zwischen den Songs nur die Namen alter Lieder reinruft. Aber Simpson ist ein charismatischer Kerl, dem man die Jahre als semiprofessioneller Barmusiker sofort anmerkt: Er fühlt sich wohl auf der Bühne, scherzt zwischen den Liedern mit Leuten aus dem Publikum, steckt sich eine Kippe an, lässt sich seine lässige Art nicht durch ein paar flach ausfallende Songs austreiben.

In den USA ist Simpson ein veritabler Mainstreammusiker, ein Grammy-Gewinner, der bei „Saturday Night Live“ auftritt und ausverkaufte Mehrzweckhallen kennt. In Deutschland ist er nahezu unbekannt, das kleine Columbia Theater ist vielleicht zu drei Vierteln gefüllt. Es sind eine Menge Amerikaner im Publikum, die sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen wollten, ihren Countrystar in diesem kleinen Rahmen zu sehen. „Besonders deutsch klingt ihr ja nicht!“, feixt Simpson. „Wenn ich gewusst hätte, dass ich hier vor einem Haufen Yankees spielen würde!“

Vor „Sound & Fury“, vor dem Gitarrengegniedele des neuen Albums, spielt Simpson brutal selbstironische und unzuckrige Countryballaden, geschmackvoll arrangiert und mit genug Raum für seine durchdringende, an Van Morrison erinnernde Stimme. Ähnlich starke Momente gibt es am diesem Abend durchaus auch – der Höhepunkt ist eine fantastische Interpretation des Soulstandards „You Don’t Miss Your Water“ –, aber viel zu viel Zeit verbringen Simpson und seine drei Bandkollegen mit schweren Rockriffs und Gitarrenbreakdowns, die man nun wirklich in jeder Fußgängerzone hören kann.

Wie aufregend kann ein minutenlanges Hinauf- und Hinabwandern der Bluestonleiter denn sein? Simpsons neues Album versteht man wohl am besten als einen Karrierestunt, als Demonstration seiner künstlerischen Eigenständigkeit. Als Ausdruck einer wagemutigen Trotzhaltung ist es sicherlich eine Ansage, und daher gefällt es der Popkritik wohl auch besser als dem Publikum, aber die mangelnde musikalische Qualität wird besonders deutlich, wenn er zwischendurch ein altes Lied spielt und sich plötzlich ganze Welten öffnen. Die neuen Songs, merkt man dann, sind nur Schall und Rauch.

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