Den Angstschweiß riechen

FESTSPIELE SALZBURG Alvis Hermanis inszeniert in der Felsenreitschule lakonisch und wirkungsvoll „Die Soldaten“, eine Oper von Bernd Alois Zimmermann

VON REGINE MÜLLER

Bernd Alois Zimmermanns epochale Oper „Die Soldaten“ gilt noch immer als mehr oder weniger unspielbar. Das Opus maximum des Kölner Komponisten, geschrieben um 1965, verlangt ein riesiges Orchester, ein ebensolches Solistenensemble und belastbare Musiker, die sich so schnell vor nichts fürchten. Zudem ist das Werk auch szenisch kompliziert angelegt, denn Zimmermann wollte die „Kugelgestalt der Zeit“ auf der Bühne erfahrbar machen und verfügte seinerzeit raunend, seine Oper spiele „gestern, heute und morgen.“

Die Geschichte nach Jakob Michael Reinhold Lenz’ als „Komödie“ bezeichnetem Sturm-und-Drang-Theaterstück „Die Soldaten“ von 1776 – das übrigens Georg Büchner zu seinem „Woyzeck“ anregte – ist bitter: Die unschuldige Marie, Tochter eines Galanteriewarenhändlers, ist mit dem braven Tuchhändler Stolzius verlobt. Doch sie sehnt sich nach gesellschaftlichem Aufstieg, wird vom Offizier Desportes verführt, dann fallengelassen und damit dem Untergang preisgegeben. Von Soldaten vergewaltigt und hungernd erkennt der eigene Vater die Bettlerin nicht mehr.

Vor sechs Jahren löste David Pountneys spektakuläre Produktion der Ruhrtriennale das „Kugelgestalt“-Problem in der Bochumer Jahrhunderthalle mit einem 120 Meter langen Steg. Auf diesem rollte der Regisseur die simultan ablaufende Handlung wie einen Teppich aus. Die Zuschauertribünen ließ er lautlos an diesem Catwalk vorbeifahren.

Der lettische Regisseur Alvis Hermanis hat nun in der Salzburger Felsenreitschule ungleich weniger Platz, aber auch eine immerhin 40 Meter breite Bühne zur Verfügung, die er in ähnlicher Weise mit Stationen ausstattet, die die Simultanität der Handlung erlauben. Vor der imposanten Naturkulisse der Felsarkaden hat Hermanis, der auch sein eigener Bühnenbildner ist, eine zweite Felsenreitschule aufgebaut. Die hintere Hälfte der Bühne ist durch verglaste Fensterbögen abgeteilt, man sieht in einen Kaserneninnenhof, in dem zu Beginn Soldaten sich in Albträumen wälzen. Später werden dort sieben leibhaftige Pferde im Kreis geführt, gestriegelt, gefüttert und von leicht geschürzten Soldatenliebchen geritten. Vor jedem der neun Fensterbögen ist mit wenigen Versatzstücken ein anderer Handlungsort angedeutet.

Schnörkellos und kühl

Hermanis verlegt das Drama in eine penibel rekonstruierte Ästhetik des späten 19. Jahrhunderts und erzählt schnörkellos, beinahe kühl, mit großer Präzision und Liebe zum atmosphärischen, historisch authentischen Detail. Eva Desseckers grandiose Kostüme tragen zu dieser Glaubwürdigkeit entscheidend bei: Man glaubt, aus den verschlissenen Soldatenuniformen förmlich den alten Angstschweiß zu riechen.

Hermanis’ Protagonisten sind sich selbst Entfremdete, deren Körpersprache mitunter in zuckenden, hysterischen Übersprungsbewegungen aus dem Ruder läuft. Alvis Hermanis glücken eindrückliche, virtuos komponierte Bilder, etwa wenn ein Artistendouble der Marie in schwindelnder Höhe auf einem Drahtseil balanciert und eben nicht abstürzt. Oder wenn die Soldaten, die in gefährlicher Langeweile herumlungern, als Scherenschnitt-Schattenrisse auf den Fensterscheiben erscheinen.

Musikalisch ist das Geschehen über jeden Zweifel erhaben: Dirigent Ingo Metzmacher hat die Musiker der Wiener Philharmoniker über den Graben hinaus auf beide Bühnenseiten und bis unter das Dach auf die Beleuchtungsbrücke verteilt. Der Wucht der Zimmermann’schen Musik, die fast ununterbrochen auf höchsten Touren am Rande des Nervenzusammenbruchs läuft, ist so nicht zu entkommen. Manchmal allerdings fährt Metzmacher die Dynamik fast an die Grenze zur Unhörbarkeit herunter, was im Kontrast zum infernalischen Dauerfortissimo umso frappierender wirkt.

Insgesamt betont der Dirigent die Modernität der Partitur. Metzmacher setzt mehr auf klare Analyse als auf den großen Überwältigungsgestus. Die großartige besetzte Sängerschar leistet Außerordentliches, allen voran Laura Aikin als geschundene Marie und Gabriela Benackova als herrische Gräfin de la Roche. Der Ensemblegeist ist mustergültig, die musikalische Präzision grenzt ans Fabulöse.

Spürbare Verschärfung

Insgesamt besticht der Abend durch eine gewisse Ausnüchterung, mit der Hermanis sich offenbar bewusst auf Lenz’ lakonische Komödienvorlage besinnt. Das Mitleidlose des Urtexts erreicht in der Reibung mit Zimmermanns Weltuntergangsstimmung in Hermanis’ raffinierter Inszenierung erstaunlicherweise eine spürbare Verschärfung. Damit ist auch Zimmermann gedient, dessen heute etwas plakativ wirkender Antimilitarismus mit der Ausnüchterung auch das allzu Missionarische einbüßt.