Gestresste Weißkittel machen blau

Mehr als 2.200 Ärzte und Ärztinnen gehen auf die Straße, um gegen ihre Arbeitsbedingungen zu protestieren. In den Berliner Uni-Kliniken sind 70-Stunden-Wochen die Regel, in anderen Ländern sind die Löhne höher. PatientInnen äußern Verständnis

VON WALTRAUD SCHWAB

„Werden Sie um Himmels Willen nicht krank!“ Diesen Rat gibt einer der mehr als 2.200 Ärzte und Ärztinnen, die gestern in Berlin demonstrierten. Warum? Weil das Fass vor allem unter den jungen MedizinerInnen am Überlaufen sei. Überstunden, befristete Arbeitsverträge, kein Weihnachtsgeld, kein Urlaubsgeld, sind nur einige der ständig wiederholten Stichworte.

Ärztlicher Großkampftag

„Die Patientenversorgung wird durch das Engagement der Ärzte aufrechterhalten“, sagt Jan Hörstrup. Zusammen mit KollegInnen steht Hörstrup am Morgen des ärztlichen Großkampftages auf der Mittelallee des Virchow-Krankenhauses im Wedding. Von dort soll der erste Protestzug zum Invalidenpark gehen. Ohne Probleme komme er in der Woche auf 65 bis 70 Stunden. Rechnet er seinen Lohn auf die Arbeitszeit um, liege dieser bei etwa 13 Euro die Stunde. Seine Kollegen bestätigen die Rechnung, denn das medizinische Personal, vor allem an Universitätskliniken wie der Charité, zu der das Virchow-Krankenhaus gehört, muss ein riesiges Arbeitspensum erledigen, kommt zur normalen Patientenversorgung doch auch noch die Forschung und Lehre.

Die meisten der Protestierenden sind jung. AssistenzärztInnen mit befristeten Verträgen. Fast immer werden diese zu schlechteren Bedingungen verlängert, da die Charité 2003 aus dem Tarifvertrag ausgestiegen ist. Die mit Lohneinbußen einhergehende Abwertung ihrer im Vergleich zu Chefärzten ohnehin schlechten Vergütung hat die MedizinerInnen letztlich auf die Straße getrieben. Sie sehen ihr Engagement und ihre Leidenschaft für den Beruf durch Lohnkürzungen noch mit Füßen getreten. „Weil wir unseren Beruf lieben und weil wir uns für die Patienten verantwortlich fühlen, sind wir immer erpressbar“, meint Raimund Senf.

Ihren Protest – und vor allem den Warnstreik – gehen die Ärztinnen nicht unverantwortlich an. Die Notversorgung wird aufrechterhalten. Katharina Friedrich, Stationsärztin in der inneren Notaufnahme im Virchow-Krankenhaus, ist am Streiktag im Dienst. Die Station ist normal besetzt. Allerdings hielten sie auf diese Weise den Polikliniken des Virchow-Krankenhauses den Rücken frei, damit die KollegInnen dort streiken können. Am frühen Morgen ist es noch ruhig. Sobald aber die Arztpraxen schließen, erwartet Friedrich einen Anstrum und lange Wartezeiten. Alle drei anwesenden MedizinerInnen würden mitdemonstrieren, wären sie nicht im Einsatz. Einer reckt die Faust. Die Stimmung steht auf Protest.

„Die arbeiten zu viel“

Ungeduldiges Genörgel ist von den Patienten auf den Krankenhausgängen nicht zu hören. Im Gegenteil: Ich bin froh, dass ich hier behandelt werde, sagt ein Frankfurter, dem ein Schlauch aus der Nase hängt. Er hatte Krebs und kämpft jetzt mit den Folgekrankheiten der Bestrahlung. „Dann warte ich eben etwas länger.“ Ein Krankentransportfahrer bei der Kaffeepause, beide Arme mit Frauen tätowiert, mischt sich ein. „Der Protest ist gerechtfertigt. Die arbeiten zu viel.“ Er habe geregelte Arbeitszeiten, die nicht. Auch eine türkische Frau hat vollstes Verständnis. Sie hat früher im Krankenhaus Moabit gearbeitet. Als es abgewickelt wurde, ist sie arbeitslos geworden und es seither geblieben. Jetzt hat ihr Mann auch noch Leukämie.

Vom Virchow-Krankenhaus ziehen mehr als 200 ÄrztInnen los zum Treffpunkt, dem Invalidenpark. „Überstunden ohne Ende = zitternde Chirurgenhände“, „Wer Arzt sein will, muss leiden“, „Ein neues Hüftgelenk? Geh doch zu OBI“ oder „Operieren Sie sich selbst“ sind nur vier der vielen Parolen, die auf den Transparenten der Demonstrierenden stehen. An Fantasie, ihre Situation in sarkastische Sprüche zu gießen, mangelt es den ÄrztInnen nicht. „So fühlen wir uns“, meint Eckart Schott. „Nicht resigniert, aber frustriert.“

Flott marschieren die Virchow-Ärzte in ihren weißen oder blauen Kitteln die Friedrichstraße entlang. Trödeln, wie es bei anderen Demonstrationen Usus ist, ist nicht ihr Ding. „Schnell hin und her rennen, das haben wir im Krankenhaus gelernt“, sagt Schott. „Nur so schaffen wir das alles.“ Er hofft, dass durch den Protest das Bild vom Schwarzwaldklinikarzt, Mercedes und Villa inbegriffen, endlich revidiert wird. Luxus ist nicht drin. In einem internationalen Einkommensvergleich von zwölf Industrieländern stehen die deutschen Ärzte an allerletzter Stelle. Transparente mit „Britpop“ oder „Tulpen in Amsterdam“ sind Anspielungen. Viele Ärzte sitzen auf gepackten Koffern.

Wildes Pfeifen

Ärzte und Ärztinnen machen im Jahr etwa fünfzig Millionen unbezahlte Überstunden, schreit Frank Ulrich Montgomery, der Erste Vorsitzende der Ärztevertretung Marburger Bund, auf der Kundgebung am Invalidenpark. Gönne man ihnen einen Stundenlohn von 20 Euro, was nicht immer der Fall ist, summiere sich dies auf eine Milliarde Euro, mit der die medizinische Belegschaft indirekt den Gesundheitssektor subventioniere. Mit wildem Pfeifen skandieren die aus dem ganzen Bundesgebiet angereisten Streikenden am Invalidenpark diese Information.

Später zieht der Demonstrationszug der Ärzte mit flottem Schritt zur Bootsanlegestelle hinter der Friedrichstraße, um in einer symbolischen Fahrt auf der Spree den Braindrain der Mediziner zu zeigen. In ihren uniformen, weißen Kitteln erinnert die Szene – wer möchte es einem verdenken – allerdings auch an Lemminge, die sich ins Wasser stürzen.