ORIGINALE

Beim Literaturwettbewerb „Open Mike“ vergibt die taz jedes Jahr einen Publikumspreis und druckt den Siegertext. 2019 gewann Sina Ahlers mit „Originale“

Foto: Mirko Lux

Von Sina Ahlers

Übersetzung 1

I Eines Nachts stieg ich in eine Streichholzschachtel.

II Seit zweitausendzehn werden die Winter wärmer.

III Von einer Brücke herunter habe ich einer leeren Autobahn meine Brüste gezeigt.

IV Nach dem Weinen und einer Nacht Schlaf ist es, als trüge man ein fremdes Gesicht.

V In Bädern werden meine Gedanken zu Kacheln, die scharf von den Wänden fallen.

VI Wenn du dich einmal für den Wahnsinn entschieden hast, lässt er dich nicht mehr gehen.

VII Die Oberflächenspannung des Wassers trägt ganze Menschen.

Übersetzung 3

I Das letzte Zündholz in einer Schachtel deutet das Scheitern schon voraus. Im schlechtesten Fall bekommt man im Moment der Zündung nicht mal eine Zigarette zum Glühen. Die Schwefelflamme duckt sich bei leichtem Nordostwind unter dem Objekt weg. Dann wird es dunkel.

II Den letzten harten Winter habe ich verpasst. Der Schnee hing wohl so schwer über den Regenrinnen, dass es den Menschen zu gefährlich war, ihre Häuser zu verlassen. Wenn es ein Maximum an Häuslichkeit gibt, war das die letzte Chance. Mir bleibt nur noch das Stromern in der Welt.

III Diese Gesellschaft ist ja so brav geworden. Ich langweile mich in meiner Generation beinah zu Tode. Selbst mir fällt nichts mehr ein, womit ich provozieren könnte. Ob das mit den gelinde werdenden Strafen zusammenhängt? Ob man zu härteren Verstößen neigt, je brutaler die Bestrafung? Ich denke, der Mensch begehrt die heimliche Freiheit.

IV Wenn sich eine Verzweiflung im Gesicht festgreift, läuft Tränenflüssigkeit auch hinter die Haut. Und im Schlaf dann formen dir deine Träume ein zweites Gesicht, mit dem du morgen durch den Tag kommen musst, Kröte.

Sina Ahlers

Autorin Geboren 1990 in Stuttgart, studierte Germanistik/Philosophie in Tübingen, dann Dramaturgie in Ludwigsburg, ehe sie an die Universität der Künste in Berlin wechselte. Seit 2017 hat sie Texte für Theaterstücke in Berlin, Potsdam, Tübingen verfasst. Zudem schreibt sie Lyrik und Prosa.

Autobiografie „Die Neunziger: Ich wachse in Stuttgart unter Schwaben auf. Es gibt sauren Haas und Dialektnachhilfe. Zweitausender: Das erste Mal stehe ich mit eigener Lyrik im Theaterhaus auf der Bühne und sitze später mit Prosa auf Nikitas Couch. Zweitausendzehner: Mit einem Volvo 740 fahre ich nach Tübingen und studiere Germanistik und Philosophie. Es ist der Kurort unter den Unistädten. In einem Dachsbau finde ich dort mein Theaterkollektiv. Wir entwickeln zwei Stücke: Sie frisst. Und Schädelgroßes Königreich. Uns gibt es heute noch, aber man merkt, dass wir unsere Heimat verlassen haben. Ich studiere im Master Dramaturgie in Ludwigsburg. Mein Körper verändert sich durch das viele Sitzen. Also jogge ich weiter nach Berlin an die UdK.“

V In manchen Familienhäusern gibt es Badezimmertüren, die nicht abschließbar sind. Es macht mir Sorgen, wie unterschiedlich Privatsphäre gehandhabt wird.

VI Es zeugt von gesundem Menschenverstand, einen Therapeuten aufzusuchen. Sobald man aber einen Fuß in eine Psychiatrie gesetzt hat, scheint sich an der Konsistenz des Verstandes etwas grundsätzlich verändert zu haben. Dein Wahnsinn wohnt jetzt in einer Institution. Ihm wurde ein eigenes Haus gebaut. Dass du nicht auf der nassen Straße zusammenklappen musst.

VII Wenn ich so auf dem Wasser liege, frage ich mich, warum ich je an Land gegangen bin.

Übersetzung 4

I Zum Sterben laufen wir an Haltestellen, um uns vor einfahrende Züge zu werfen. Wir haben alte Regenjacken an. Wir nehmen die Hände in die Taschen und finden Streichholzschachteln. Wir schieben die Schachteln auf. Darin liegen Zettel, auf denen Telefonnummern stehen, und letzte Zündhölzer. Wir rufen an und laufen Hand in Hand zu den nah gelegenen Häusern der Großeltern. Die Federbetten in den Gästezimmern sind wie Uteri. Wir schauen uns an, auch wenn wir schlafen. Früh morgens wachen wir auf, steigen aus den Fenstern und laufen nach Hause.

II Zum Sterben ziehen wir uns leicht an und gehen raus in den Schnee. Wir haben die Bücher dabei, in denen wir nach Zeichen gesucht haben. Aber da waren keine. Also gehen wir an die Ränder der Dörfer auf Anhöhen an Feldern und legen uns auf Bänke, die Köpfe auf den Büchern der fehlenden Zeichen. Wir wollen erfrieren. Es gelingt uns nicht. An diesen Tagen ist es nicht kalt genug. Der Schnee schmilzt. Wir kommen pünktlich zum Abendessen nach Hause.

III Zum Sterben laufen wir auf die Autobahnbrücken hinter unseren Häusern. Die Nächte sind lau und sternverstrahlt. Also verlieren wir die Lust am Sterben. Zu Hause öffnen wir die Fenster und schlafen tief.

IV Zum Sterben sinken wir betrunken in Partyküchen zusammen und weinen uns in Unterwelten. Niemand weiß, woran wir zerbrechen, aber sie haben Verständnis. Wir weinen lange an Brustkörben, bis wir schwach sind und die Trauer versickert. Sie bringen uns in die Betten. Die nächsten Morgen schauen uns mit angedickten Augen an. Sie sehen nichts. Das stimmt uns glücklich.

V Zum Sterben gehen wir in Badezimmer und liebäugeln mit scharfen Gegenständen. Wir fantasieren uns in saubere Duschen, in denen das Blut den Abfluss findet. Dann wischen wir den Urin vom Geschlecht und flüchten auf Balkone. Sie folgen uns und wir ändern die Pläne, in Tiefen zu springen. In Korbstühlen zittern wir, bis es hell wird. Ihr begleitet uns nach Hause, aber wir schlafen nicht. Nur Hochglanzserien können uns ablenken. An Mittagen gibt es Pfannkuchen.

VI Zum Sterben stehen wir in Innenhöfen. Ihr haltet uns fest. Ihr überlegt, in die Psychiatrien zu fahren. Wir lehnen das ab. Wir haben Ängste, dass das das Ende unserer normalen Leben sein könnte. Dass wir die Grenzen überschreiten. Wir müssen versprechen, wieder Kontakt zu den Welten aufzunehmen, versprechen, dass wir uns wieder auskennen. Wir versprechen alles und werden darüber froh.

VII Zum Sterben gehen wir des Nachts an die Flüsse. Es regnet stark. Auf dem Weg dorthin schreiben wir Nachrichten vom Nichtmehrkönnen. Ihr fragt uns, was wir nicht mehr können. Darüber denken wir so lange nach, bis die Flüsse uns metaphorisch und die Leben real vorkommen.

Übersetzung 5

„Es gibt Momente, in denen wünsche ich mir einen Wahnsinn. Damit sich die Dinge um mich herum auf eine neue Art betrachten lassen. Damit mein Körper vergisst, was er zu wissen glaubt“ Fotos: Kyle Thompson/VU/laifI

I Jouissance. Zwei Menschen fangen Feuer. Die eine kokelt ein bisschen am Ohr. Dem anderen knistert die Lende. Sie stecken sich gegenseitig an, bis am ganzen Körper Flammen nagen, greifen, lecken, schlagen. Hast du einen Moment versucht zu flüchten, junger Padawan? Eingefangen! Grade noch am Brustkorb erwischt. Deine Rippen, wie Zündhölzer in meiner Hand, ein Tuch aus Fleisch darüber gespannt. Die Luft wird knapp. Das Fleischtuch zappelt. Spürst du’s? Das ist der Höhepunkt. Mehr kann ich für dich nicht empfinden, darüber kommen wir nicht hinaus. Ich will darüber hinaus. Aber ich komm nicht darüber hinaus. Aber ich will darüber hinaus.

II Häuslichkeit ist ein Lustprinzip. Dieselben Menschen, in den immer selben Räumen, auf gebügelten Laken drapiert. Was bleibt, ist ein gelber Rand und die Mechanik des Küssens.

III Eine exklusive Beziehung ist zum Davonschleichen. Die Regeln sind so bekannt wie die Stellen, an denen die Holztreppe nach unten knarrt. Mit der Tür, die ins Schloss fällt, wachst du auf. Ich bin verloren.

IV Heute hat keiner Zeit zum Spielen. Und du? Der du neben mir liegst in einer nebulösen Vertrautheit? Magst du ein bisschen für Klarheit sorgen? Nimm die Maske von der Wand und drück sie mir so lange ins Gesicht, bis sie passt. Es wird dir gefallen.

V Ich pisse. Die Tür geht auf. Dein Blick geht viral. Ich lösche mein Profil. Du greifst in meinen Urin. Ich schließe den Muskel. Es gibt Dinge, die gehören dir nicht. Du nimmst ihn in den Mund. Ich sage, bäh, Kevin, bäh, tu der Mama den Gefallen und nimm nicht jeden Schmutz in den Mund. Du schiebst mir zwei Finger in die Vagina. Hast du im Sand gespielt? Die Pisshand drückst du mir ins Gesicht. Jetzt hilft kein Humor mehr, nur noch Gewalt. Ich bin eine Frau. Und ich habe Gewalt.

VI Es gibt Momente, in denen wünsche ich mir einen Wahnsinn. Damit sich die Dinge um mich herum auf eine neue Art betrachten lassen. Damit mein Körper vergisst, was er zu wissen glaubt. Damit ich vergesse, was ich über deinen Körper zu wissen glaube. Selbst im Drogenrausch bin ich auf ein Introjekt zurückgeworfen. Normstreicheln. In Form lecken. Mandalastöhnen. Ich will über deine Ränder malen. Jemand reiche mir einen dicken Pinsel und Fehlfarben.

VII So wie das Meer in eine Unruhe gerät. Sich überwirft. Gegen Felsen klatscht. Gurgelt und schmatzt. Und der Untergrund nie unberührt bleibt. Genauso.

Übersetzung 8

I Am Morgen habe ich große Sehnsucht danach, mich an einen Traum zu erinnern, von dem ich dir erzählen kann. Mir kommen die blauen Blumen in den Sinn, die gestern nah am See wuchsen. Die Angst, es könnte sich um Eisenhut handeln, und du in deiner Infantilerie ein paar Blüten schluckst. Um nicht zu lügen, schlafe ich noch mal ein und tauche nach einer wahren Begebenheit.

Mit dem Text „Originale“ gewann Sina Ahlers am 10. November 2019 den Publikumspreis beim Literaturfestival Open Mike im Heimathafen Neukölln in Berlin. Die Publikums­jury wird von der taz betreut, ihr gehörten im vergangenen Jahr Mark Monetha, Layla-Nadine Katana, Lütfiye Güzel, Niklas Buschmann und Axel Hannemann an. Danke! Sina Ahlers wurde doppelt ausgezeichnet, die Fachjury (Thomas Meinecke, Clemens Meyer, Uljana Wolf) vergab ebenfalls einen Preis an sie.

II Es sind nicht Räume. Es sind Menschen, in denen ich wohne. Ob ich in ihnen eine Nische finde, in der ich dichten kann.

III Die Wände bewegen sich. Langsam. Raum ist geduldig. Morgens schon, im Dampf eines ­Wasserkochers, da fängt das mit euch an. Er ­wartet darauf, dass du deine Stirn an seinen Putz legst. Ein bisschen Qualitytime. Das wird ja wohl noch. Du bist hier nicht im Hotel irgendwas. Ihr könnt jetzt intim werden. Der Keller ist feucht. Scheiße. Musst dich kümmern. Bilder hängen an Bildern. Die kriegst du nie mehr getrennt. Du in deiner Gewohnheit: ablaufen und einordnen. Dahin der süße Senf, eine Stabkerze nachladen. Hau doch ab. Geh raus. Finde eine Bank, an der genau richtig viele Menschen vorbeikommen. Für den latenten Sinn, kannst du zurückkommen. Darfst eine Fläche aufstellen, die nicht wie ein Tisch aussieht, aber wahrscheinlich genauso funktioniert. Darfst von blassen Fliesen essen, das scharfe Eisen aus dem Balken ziehen. Der Gasherd verteilt die Hitze ungleichmäßig, im Kühlschrank liegt Knete, aus der Vase ragt ein Knochen, irgendwo wirft ein Objekt Licht auf die Flächen. Wohnraum gehört dir nicht.

IV Unser Chatverlauf über Wochen. In denen wir uns fehlen und in eine Gedächtnislücke flüstern. Fantasien, alles nur Fantasien. Ich will irgendwas, das wahr ist. Etwas, das in die Zeit fällt. Dass einer den anderen mit heißem Kaffee verbrüht. Aua. Entschuldige. Schon verziehen.

V Ich male Gott. Eine Säufernase am linken Rand. Große Poren über den krummen Rücken verstreut. Finger, die in alle Richtungen stehen. Füße fehlen ganz. Ich habe Gott gemalt.

VI Während ich diese Sammlung vorlese, hat mein Knie schon sechsmal gezuckt. Immer an Stellen, die sich noch nicht von meiner Biografie gelöst haben. Und wenn ich in ihr Fahrwasser gerate, kippt mein Knie einmal kurz nach links und nach rechts. Das hat nichts mit Verlegenheit zu tun. Die Versessenen hocken im Gelenk und nehmen sich den Raum, den sie zum Fortleben brauchen.

VII Du greifst den Apfel aus der Schale und nimmst einen unverschämt großen Bissen. Es knackt, als hättest du dir dafür deinen Kiefer ausgehängt. Spucke und Saft trielen auf deine Gürtelschnalle. Mein Blick sagt: Was zur Hölle. Du wirfst das Gehäuse in den Plastikmüll und lachst dreckig.

Übersetzung 12

I Im Schnee einer stillgelegten Landstraße mime ich rücklings einen Engel. Der Himmel hängt einen Zentimeter über meiner Stirn. Es gibt nur wenige Momente, in denen man friert, aber ein Lächeln wie 24 nackte Streichhölzer.

„Den letzten harten Winter habe ich verpasst. Der Schnee hing wohl so schwer über den Regenrinnen, dass es den Menschen zu gefährlich war, ihre Häuser zu verlassen. Wenn es ein Maximum an Häuslichkeit gibt, war das die letzte Chance. Mir bleibt nur noch das Stromern in der Welt“

II Ein Mensch, der Angst hat, in Deutschland zu verhungern. Steht am Fenster seines Einfamilienhauses und schaut den Amseln beim Jagen zu. Es ist so leicht. Es ist so leicht. Es ist zu leicht.

III Großvater, von deinem Selbstmord 1972 ist noch heute etwas übrig. Wenn du das gewusst hättest, oder?

IV All diese Symptome passen in kein Krankheitsbild, ihr Ficker, Wissenschaft ist eine Asymp­tote.

V Als ich sage, dass die Jahre mit dir ein Kompromiss waren, weil ich der Welt eine sehr, sehr eingängige Geschichte erzählen wollte, wird klar, dass wir nie eine Fantasie voneinander hatten. Ich wünschte, mir wäre in dem Moment eine dumme Frage eingefallen. Jetzt sitze ich auf öffentlichen Toiletten und fühle der Enthauptung nach.

VI Orgasmen können wehtun.

VII Es gab diesen Jungen, der Kinder gebissen hat. Mich hat er in Frieden gelassen. Es könnte an meinen ernsten Augenbrauen gelegen haben oder daran, dass ich das härteste Brot von allen in der Box hatte. Bevor ich diesen Laden verlassen habe, biss ich mir einen Bluterguss in den Unterarm. Am nächsten Morgen hing kein Namensschild mehr über seinem Haken. Es gibt höhere Ziele.