IN MITTE WOHNEN DIE KINDER VON KOHL UND GENSCHER
: Freude am Freibetrag

VON ULRICH GUTMAIR

In meinem Viertel ist die Ankündigung der Erhöhung des Kinderfreibetrags mit Wohlwollen aufgenommen worden. Die Leute machen einen noch aufgeräumteren Eindruck als sonst. Um die Münder der nicht mehr ganz so jungen Mütter spielt ein leicht ätherisches, selbstzufriedenes Lächeln, das die spätgebärenden Frauen der gehobenen deutschen Mittelklasse allerdings auch sonst auszeichnet.

Sie spazieren gemütlich durch den Kiez, um hie und da für einen Latte anzuhalten. Womit sie zeigen, dass sie von der hedonistischen und nicht von der neokonservativen Fraktion sind, was aber wohl nicht ausschließt, dass sie ihre Kinder taufen lassen. Seit dem Erfolg des freiheitlichen, in Deutschland nur Deutsch sprechenden Herrn Westerwelle sollte man allzu feine Differenzierungen in den Milieus der akademisch Gebildeten vielleicht ad acta legen und die gute alte Einteilung der Welt in links- und rechtsliberal wieder einführen.

Es ist ruhig im nördlichen Mitte. Ausländer und Migranten aus nichteuropäischen Ländern gibt es bei uns nicht, auch keine Alten und Gebrechlichen. Die Grenze zu den multikulturellen Quartieren der Arbeiter, kleinen Angestellten und Transferleistungsempfänger drüben im Norden markiert die Bernauer Straße. Das Leben hüben gleicht dem Mittelklasseleben in der Provinz, dem man einst entflohen war, in dessen warme Stube man nun aber nicht ungern zurückkehrt .

Wenn ich die Bewohner meines Kiezes stellvertretend für eine ganze Generation erwachsen gewordener Kinder von Kohl und Genscher insgeheim rechtsliberaler Tendenzen verdächtige, dann ist das reine Projektion. Sie speist sich aus dem Horror, sich womöglich in der zutiefst kleinbürgerlichen deutschen Mittelklasse wiederzuerkennen: „Oh nein, bin das wirklich ich?“ Die Fakten sehen so aus: Die Grünen haben in meinem Wahlkreis 40 Prozent der Zweitstimmen erhalten. Ihnen folgt die SPD, die mit 19,5 Prozent in einem upcoming Topviertel noch ganz gut dasteht. Die schwarz-gelbe Koalition dagegen käme mit 23,5 Prozent nicht weit, wenn mein aufgeklärter, linksliberal und hoffnungsfroh in die Zukunft schreitender Kiez den Ton angäbe in Deutschland.

Das tut er aber nicht. Daher stellt sich die Frage, womit der cashflow finanziert wird, der wegen des Freibetrags bald in die Klavierstunden für den Nachwuchs der Nachbarn fließen wird. Wird anderswo gespart werden? Wird die Regierung, wie bei den Bankmilliarden, Geld aus der Zukunft holen? Wird der Freibetrag über die Mehrwertsteuer finanziert, die dann auch die Eltern der Kids im Wedding bezahlen? Tun sie das mit Einkünften aus Transferleistungen, deren Quelle Steuereinkünfte aus meinem Kiez sind? Und: Fragen sich meine Nachbarn das alles? Sicher ist nur eines: Sie sehen zufrieden aus, die Frauen mit den Kinderwagen. Sie haben linksliberal gewählt. Und sie trinken gerne Kaffee.