Notfalls mit dem Knüppel

Auch als junger Musiknerd ist man relativ schnell übersättigt von all dem Kram, der täglich in Massen produziert und imitiert wird. Bei der Spurensuche in verstaubten Plattenkisten findet sich nicht nur abgeschlossene Geborgenheit, man entwickelt den schönen Hang zur Nostalgie, die eine Vergangenheit verklärt, die weit vor der eigenen Geburt liegt. Alles klingt nach einem heldenhaften Mythos und insgeheim glaubt man, ich gehöre nicht ins Jetzt.

Fragt man Zeitzeugen nach dem Ton-Steine-Scherben-Album „Keine Macht für Niemand“, bekommt man in wenigen Worten das Gewicht dieser Platte zu spüren. „Das war die erste ernsthafte Rock-Platte auf Deutsch,“ heißt es. „Sie wurde zum Soundtrack der Hausbesetzer-Szene in Kreuzberg.“ Oder, gerührt: „Damals haben wir noch geglaubt, wir würden den Sozialismus miterleben.“ Vor allem aber ist da ein Schmunzeln in den Gesichtern der GenossInnen, als würde ihnen ein Bild einfallen, das nicht in Worte zu fassen ist und deshalb für immer ein Geheimnis bleiben muss.

„Keine Macht für Niemand“ ist hingegen so sprachgewaltig, dass es selbst heute noch verstört. Deutlich wird das „wir“ abgegrenzt von einem „sie“, den Schreibtischtätern, Menschenjägern, Polizisten. Das explizite „du“ adressiert Revolutionäre, Arbeiter, Studenten und junge Idealisten. Ton Steine Scherben machen keinen Hehl aus ihrer Wut und sind der beste Beweis dafür, dass Avantgardismus nicht kryptisch sein muss. Das Wort zum Sonntag heißt „Scheiße“, das Wort zum Montag „Mach mal blau“. Die Sprache riecht kein bisschen muffig und Rio Reisers nüchterne Intonation macht die euphorischen Parolenrufe greifbar. Jedes „Wir werden es schaffen!“ schürft neue Hoffnung und doch wird die Tristesse nie außer Acht gelassen: Die Alten geben sich ihrem Alltagstrott hin und saufen nachts in der Kneipe, um den Tag zu vergessen. Die Jungen kämpfen, um sich frei zu machen, von Besitzansprüchen, von Sklavenarbeit, von Hierarchien. Sollte es dem Frieden dienen, schlägt man notfalls mit dem Knüppel dem Chef die Zähne raus und greift zur Knarre, um alle Schweine abzuknallen.

Besonders der Titelsong zeichnet einen Aufbruchszustand, in welchem alles möglich zu sein scheint. „Keine Macht für Niemand“ ist mit seiner doppelten Verneinung die Vertonung des Protests. Die feierlichen Gitarrenriffs untermauern diese Gewissheit nur. 40 Jahre ist die Veröffentlichung nun her und wird mit einer Ausstellung gewürdigt, die die Geschichte des Klassikers aufarbeitet. FAY

■ 40 Jahre „Keine Macht für Niemand“: The Browse Galerie, Marheineke Markthalle, Marheinekestraße 15. 25. 8.–22. 9. 2012. Frei