taz-adventskalender: wortwörtlich berlin
: Buchstäblich an jeder Ecke

Wer etwas über Berlin lesen will, hat viel Auswahl. Die schönsten Schriftstücke stellt die taz bis Weihnachten täglich vor. Und es geht nicht nur um Bücher!

Wir sind es gewohnt, auf digitalen Karten in verschiedenen Zoomstufen jederzeit den Blick auf die Umgebung, ferne Orte ebenso, zu werfen und den eigenen Standort satellitengestützt mit hoher Genauigkeit bestimmen zu können. Wir sehen die Stadt als einen beweglichen Bildausschnitt in der Hand, sind sichtbar in diesem grafischen Netz, als pulsierender blauer Punkt zum Beispiel. Wir werden so Teil der topografischen Abbildung, während wir gleichzeitig, körperlich schmerzlich manifest in eine Pfütze treten mögen und fluchen, wo sie denn nun bleibt, die berühmte weiße Weihnacht.

Berlin lesen: Das geht, wie an jedem anderen Ort, zunächst auch ohne Hilfsmittel. Egal ob schlendernd oder durch den Alltag hetzend, vielleicht mit einem nassen Schmatzen am Fuß. Die Stadt ist das Buch, was nicht nur als abgedroschene Phrase gemeint ist, sondern ganz wörtlich. Die Werbungen, Gedenktafeln und Warnschilder, Hinweise an Bussen und Graffiti. Das alles vereint sich zu einer urbanen Kakophonie aus kurzen Schlagwörtern, Schlagzeilen bisweilen, die jeweils für sich im besten Falle eine interessante Geschichte erzählen, manchmal nerven oder langweilen. Vergleichsweise unscheinbar dazwischen, als sichtbarstes Zeichen des Ordnungsprinzips der Stadt stehen an buchstäblich jeder Ecke die Straßenschilder.

Hinterm Spandauer Schifffahrtskanal reihen sich die Eigenheime entlang der Sträßchen mit den kürzesten Namen. Parallel zum Singdrosselsteig die Straße A. In Richtung Westen geht es einmal durchs Alphabet bis zur Straße Z. Man machte um 1930 offenbar nicht viel Gewese um die Markierungen in der neu errichteten Siedlung der Siemenswerke. Vergisst man diesen Nachhall der damals alles dominierenden industriellen Funktionalität in diesen Namen und natürlich den der Flugzeuge aus Tegel, ist es außerordentlich pittoresk südlich der Jungfernheide. Am anderen Ende der Stadt behaupten Froschsteg, Otterstraße und Krötengasse ein ähnliches Idyll. Jedoch der Flughafen Schönefeld ist nah.

Im Zentrum der Stadt verraten Straßennamen viel über die Wachstumsgeschichte Berlins. Acker- und Gartenstraße sind derweil verbunden durch den ambitionierteren, politische Prioritäten verratenden Theodor-Heuss-Weg. Heuss’ Name ist den meisten sicher noch geläufig, für unbekanntere Patrone und Patroninnen hilft ein Blick auf die kleinen Ergänzungshinweise an den Straßenschildern, die manchmal das Nötigste, oft aber weniger als das verraten.

So beginnt ziemlich genau am geografischen Mittelpunkt der Stadt die Franz-Künstler-Straße. Im stilleren Teil Kreuzbergs führt sie an Nachkriegssiedlungen mit Garagenkomplex hinter das Jüdische Museum. „Reichstagsabgeordneter“ verrät das Schild, neben den Lebensdaten Künstlers. Mehr lässt sich erfahren an einem früheren Wohnhaus Künstlers am Weigandufer: Sozialdemokrat und Widerstandskämpfer war er, Vorsitzender des SPD-Bezirks Groß-Berlin von 1924 bis 1933.

Künstler überlebte zwar die Lagerhaft im KZ Oranienburg, brachte jedoch ein chronisches Herzleiden mit. Zu schwerer körperlicher Arbeit gezwungen wurde er trotzdem. Künstlers Leben endete wiederum an einer Berliner Straßenecke. Wo Blücher- und Urbanstraße aufeinandertreffen, brach Franz Künstler am 10. September 1942 tot zusammen. Genau da, wo mein blauer Punkt jetzt ist – wenn sich die digitale Karte wieder über die Notizen legt.

Daniél Kretschmar

Berlin-Faktor: Mehr geht wirklich nicht.

Taugt als Weihnachtsgeschenk: Ein Einzelstück würde der Sache ein bisschen den Reiz nehmen. Und wer will schon ein Straßenschild von jeder der mehr als 9.000 Berliner Straßen zu Hause haben?

Kunden, die das kauften, kauften auch: Anton Tantner, „Die Hausnummern von Wien.Der Ordnung getreue Zahlen“; Edition Seidengasse (2016).