taz-adventskalender: Antifa ist Lesearbeit
Lisa Tetzner: „Die Kinder aus Nr. 67. Odyssee einer Jugend“. Die Bände 1 bis 8 erscheinen bei Fischer Sauerländer, je 7,99 Euro. Band 9 gibt’s nur noch antiquarisch.
Wer über Berlin lesen will, hat viel Auswahl. Die schönsten Schriftstücke stellt die taz bis Weihnachten vor. Und es geht nicht nur um Bücher!
Zwischen 1933 und 1949 schrieb die deutsche Autorin Lisa Tetzner im Schweizer Exil eine neunbändige Reihe über drei Kinder aus einer Berliner Mietskaserne. Die Geschichte beginnt 31 und endet nach 45. „Die Kinder aus Nr. 67“ ist antifaschistische Literatur und keine Wohlfühl-Lektüre. Tetzner schildert, wie sich eine Gesellschaft dem Nationalsozialismus öffnet – und zugrunde geht. Die Parallelen zu heute sind oft verstörend.
Dabei sind es hochspannende Bücher über ein Berlin, das zunächst kaum an heute erinnert. Es ist das Berlin der Arbeiter, der dunklen Hinterhöfe und engen Wohnungen, in dem die Geschichte um die beiden Protagonisten (Band 1, „Erwin und Paul“) 31 beginnt. Armut, Hunger und zu wenig Platz prägen sie. Pauls Vater wird arbeitslos, Mietschulden belasten die Familie, am Ende landet sie im Obdachlosenasyl. Und auch bei Erwins Eltern wird das Geld knapp, als die Mutter das fünfte Kind bekommt.
In Band 2 („Das Mädchen aus dem Vorderhaus“) kommt die Jüdin Mirjam als Protagonistin hinzu. Zwischen dem Mädchen und den Arbeiterjungen entwickelt sich nach Berührungsängsten eine echte Freundschaft. Am Ende organisieren sie ein Hoffest. Bei der Tombola zieht Paul das große Los: eine Wohnung. Damit könnte die Geschichte glücklich enden. Doch das tut sie nicht – und nimmt ab Band 3 („Erwin kommt nach Schweden“) Fahrt auf.
Flucht, Exil und Verluste prägen die Leben von Erwin und Mirjam. Nur Paul bleibt in Berlin, die Familie schließt sich den Nazis an, wirtschaftlich geht es bergauf. Doch wir erleben mit Paul auch Bombenangriffe und den Tod seiner Familie. Nach 45 treffen sich die Freunde wieder, von der „Stunde Null“ ist nichts zu spüren, sie diskutieren über Schuld und Moral.
Tetzner gelingt etwas, das nicht viele KinderbuchautorInnen schaffen: sie nimmt ihre jungen ProtagonistInnen ernst, gestattet ihnen, Dummheiten und Fehler zu machen und daraus zu lernen, ohne zu verurteilen. Kinder spüren das beim Lesen. Und dass die Bücher in der Zeit geschrieben sind, von der sie erzählen, macht sie authentisch. Im Krieg sterben Menschen, es gibt Angst, Verrat und Verluste. Tetzner schreibt darüber aus ihrer Erfahrung.
Wer jungen Menschen erklären möchte, wie all das passieren konnte, was geschichtsvergessene Politiker heute als „Vogelschiss“ bezeichnen, dem seien die Bände sehr ans Herz gelegt. Und wer für lange Winterabende nach einer Netflix-Alternative sucht, ist auch gut bedient. Gaby Coldewey
Berlin-Faktor: Es geht ums Zwischenkriegs-Berlin der Arbeiter, der dunklen Hinterhöfe und engen Wohnungen
Taugt als Weihnachtsgeschenk für: historisch interessierte Menschen
Kunden, die das kauften, kauften auch: „Die schwarzen Brüder“ von derselben Autorin – genauso spannend
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