ABITUR SOLL ES SEIN
: Unser Pisa-Mädchen

Es finden regelmäßig Schachturniere statt

Draußen in der Pisa-Welt fahren die Eltern ihre Ellenbogen aus, und dafür muss man bestens vorbereitet sein. Schon die Kleinsten scheinen Teil eines riesigen Wettkampfs zu sein, auch wenn sie noch in irgendeiner Krabbelgruppe in Marzahn oder Wedding sind. Mein Sohn kann schon sitzen. Unser Kleiner spricht ja schon lange. Meine Jüngste kann schon schwimmen. Unsere Zwillinge kitzeln sich gegenseitig an den Fußsohlen. Mein Nils hat gestern schon wieder einen Handstand gemacht.

Die junge, moderne Mittelschicht will sich das zwar nur ungern anmerken lassen, aber trotzdem denkt sie es: Abitur sollte schon drin sein. Da ist es nicht schlecht, schon frühzeitig ein paar Altersgenossen abzuschütteln, um im weiteren Konkurrenzkampf besser dazustehen.

Lange genug haben wir uns verrückt machen lassen, was andere Kinder schon können und wie weit unseres diesen bereits hinterherhinkt. Aber damit ist jetzt endgültig Schluss. Meine Frau und ich haben für unsere Tochter einen Kindergarten gefunden, bei dem wir ein richtig gutes Gefühl haben: „Alle Vögel sind schon da“ wird fünfsprachig gesungen, es finden regelmäßig Schachturniere statt, in der Buchstabensuppe schwimmen chinesische Schriftzeichen, täglich wird der höchste Legoturm prämiert, und wer am Wochenende beim Putzen hilft, kann sich im Ranking noch mal nach vorn schieben. Besonderes Highlight ist das monatliche IQ-Messen mit tollen Preisen von der Sparkasse.

Über ein Jahr lang haben wir auf einen Platz gehofft und uns ständig vorgestellt, wie die Kleine im Fall einer Absage einmal stempeln gehen muss. Gestern Nachmittag dann der erlösende Anruf: Unsere Tochter habe ihren Platz sicher. Vor ihr auf der Warteliste musste ein Kind disqualifiziert werden. Es hatte beim Eignungstest geschummelt. JOCHEN WEEBER