Anderer Blick zurück

AUS BERLIN CHRISTIAN SEMLER

Letztes Jahr hatte es beim „Tag der Heimat“ des Bundes der Vertriebenen gekracht. Erika Steinbach mitsamt ihrem Projekt des „Zentrums gegen Vertreibungen“ stand gegen den Ostpreußenchef Rudi Pawelka und dessen „Preußische Treuhand“, die Entschädigungen für das nach 1945 enteignete Vertriebenenvermögen forderte. Gemeinsamer Buhmann war der Kanzler mitsamt seiner Versicherung, es gäbe keine offenen Vermögensfragen mehr im Verhältnis zu Polen und Tschechien. Das Vertriebenentreffen am Samstag in Berlin hatte das Motto „Vertreibungen weltweit ächten“ gewählt. Diesmal herrschte beim größtenteils betagten, mehrtausendköpfigen Publikum eitel Harmonie. Und freudige Erwartung, dass die Kanzlerkandidatin Angela Merkel ihr Versprechen einlösen und das „Zentrum“ tatkräftig unterstützen werde.

Die Rede Erika Steinbachs war gänzlich der Geschichtspolitik gewidmet. Die Vorsitzende hatte sich zum Ziel gesetzt, die Bedeutung der Vertriebenen für die deutsche Nachkriegsgeschichte herauszuarbeiten. Sie nahm hierfür die aus dem östlichen Teil Deutschlands stammenden Geistesgrößen von Kant bis Eichendorff in die Pflicht, ganz so, als ob diese Denker und Dichter ihre Bedeutung ihrer landsmannschaftlichen Herkunft verdankten. Den 12,5 Millionen Vertriebenen attestierte sie, sie hätten praktisch zu einem neuen Staatsvolk aus Binnendeutschen und Ostvertrieben beigetragen, wären Bestandteil einer „intraethnischen Metamorphose“ gewesen, die zu einer neuen deutschen Identität führte. Eingebracht hätten die Vertriebenen in dieses neue Deutschland eine interkulturelle Kompetenz, oft begründet durch ihre Mehrsprachigkeit. Diese ebenso interessante wie jähe Wende Erika Steinbachs zum Multikulturalismus war eingebettet in die europäische Perspektive, der sich die Vertriebenen schon in ihrer Charta von 1950 verschrieben hätten. Eine etwas waghalsige Konstruktion, die Steinbach nur dadurch aufrichten konnte, dass sie den Kampf des Bundes der Vertriebenen gegen die Oder-Neiße-Grenze und die jahrzehntelange deutschnationale Ausrichtung des Verbandes ausblendete.

Im Übrigen flocht Steinbach das deutsche Vertriebenenschicksal in die Geschichte der großen Vertreibungen ein und betonte, dass im Licht der völkerrechtlichen Entwicklung heute Vertreibungen als schwerer Verstoß gegen die Menschenrechte angesehen würden. Dieser Argumentation konnte sich als Gastredner auch Otto Schily anschließen, der jedoch am Primat einer Verständigungspolitik festhielt. Er wies mit gebotenem Nachdruck auf den geschichtlichen Vorlauf der Vertreibungen in der Doktrin und Praxis nationalsozialistischer Bevölkerungspolitik hin. Auch unterließ es nicht, hier auf die Rolle des NS-Historikers Theodor Schieder zu verweisen, der nach 1945 zu den Autoren des vielbändigen Standardwerks zu den Vertreibungen gehörte. Damit berührte Schily einen wunden Punkt: die nach wie vor ausbleibende Beschäftigung des Bundes der Vertriebenen mit der Nazi-Vergangenheit vieler ihrer Funktionäre und Wegbegleiter. Das Zentrum gegen Vertreibungen wollte er nur unter einer europäischen Regie gelten lassen.

Auch Angela Merkel nahm den Faden der Geschichtspolitik auf und bescheinigte den Vertriebenen, durch ihre Zukunftsorientiertheit, ihren Verzicht auf Rache und Vergeltung so etwas wie Pionierarbeit geleistet zu haben. Sie verteidigte das „Zentrum gegen Vertreibungen“ erneut mit dem Hinweis auf dessen internationale Ausrichtung. Das Zentrum stünde auch nicht in Konkurrenz mit anderen Unternehmungen. Kritische Stimmen in Polen und Tschechien könnten besänftigt werden. Der Menschenrechtspolitik von Rot-Grün gegenüber blieb ihre Kritik absichtsvoll-vage. Das Publikum war sowieso mit ihr einig.

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