Zeitloser Wortfechter

Die gesammeltenTitanic-Kolumnen von Walter Boehlich (1921–2006) sind neu erschienen. Die Texte sind gut gealtert

Walter Boehlich:

„Kein Grund

zur Selbstrei­nigung. Die Titanic-Kolumnen“. Verbrecher Verlag, Berlin 2019, 240 Seiten,

20 Euro

Von Thomas Schaefer

Nehmen wir – aus Gründen der Anschaulichkeit – nur mal das Beispiel SPD: „Ihre Programm- und Ideenlosigkeit ist so groß geworden, daß sie zwar noch eine Grundwertekommission besitzt, die für eine ferne Zukunft wieder eine Art Programm erfinden soll, im Übrigen aber mangels irgendeines Gedankens, der mit ihrer Vergangenheit zusammenhinge, Meinungsforschungsinstitute beauftragt hat, herauszufinden, wo gegebenenfalls noch Wähler zu finden wären, die für sie stimmen könnten.“ Die Aktualität dieses im Januar 1985 veröffentlichten Befunds deutet darauf hin, dass unter Umständen manches in diesem Land hätte besser laufen können, wenn die Betroffenen häufiger die Titanic gelesen und beherzigt hätten, was Walter Boehlich (1921–2006) dort Monat für Monat abgehandelt hat.

Von November 1979 bis Januar 2001 hatte Boehlich im Frankfurter Satiremagazin seine regelmäßige Kolumne, „die politische Basis- und Generalanalyse“ (Stefan Gärtner), deren Ernst einen nur scheinbaren Kontrast zum sonst eher auf Komik ausgerichteten Blatt bildete. Komisch waren die Themen, denen sich Boehlich widmete, ganz und gar nicht: Er arbeitete sich am Fortwirken von NS-Personal und -inhalten in Justiz, Wirtschaft und Politik ab, an Antisemitismus und Nationalismus, Parteienverfall und „Leitkultur“, Naturvernichtung, den Ursachen und Folgen des sich ausbreitenden Neoliberalismus. 251 Kolumnen hat Boehlich geschrieben, rund 30 kann man nun rechtzeitig zum 40-jährigen Titanic-Jubiläum nachlesen. Natürlich kann man nicht leugnen, dass sie zeithistorisch verhaftet sind, uns begegnen Namen, die – oft muss man sagen: zum Glück – nicht mehr gegenwärtig sind. Doch weiß man nicht, ob es eher beruhigend oder alarmierend ist, dass die meisten Texte, etwa der Text über die SPD, die „keinen Navigator hat und einen Kurs auch nicht“, von ungebrochener Gültigkeit sind.

Gewiss aber sind sie von ungebrochener Lesbarkeit: Boehlich war nicht nur ein mit profunden Kenntnissen ausgestatteter Intellektueller – was er auch als Literaturkritiker und einer jener Suhrkamp-Lektoren, die 1968 im legendären Streit über ein Mitbestimmungsstatut den Verlag verließen, bewiesen hatte –, sondern ein wunderbarer Stilist, der in seiner klaren Sprache Wert darauf legte, verstanden zu werden. Nicht immer kann er seine Empörung über die Zustände verleugnen, stets aber hat er sie im Griff. Seine Waffe ist das elegant geführte Florett: Anstatt auf Attacke setzt er auf (rhetorische) Fragen, Understatement und ironische Polemik, um Missstände anzuprangern: „Man hatte Schuld auf sich geladen, eine ungeheure und den wenigsten bewußte Schuld, aber die Strafe sollte sich doch lieber in Grenzen halten, am liebsten in den Grenzen von 1937“, schreibt er süffisant über die deutsche Nachkriegsgesellschaft.

Dass die Missstände geblieben sind, sich eher verschärfen – an Boehlich hat’s nicht gelegen. Nur der Titanic geht es gut: In Stefan Gärtner hat sie, auch wenn der eine solche Rollenzuschreibung in seinem Nachwort zurückweist, einen adäquaten Nachfolger gefunden.