Vom Erfolg überrumpelt

Zerknitterte Verlierer, überraschte Sieger: Mit der neuen SPD-Spitze bahnt sich ein Machtkampf um den Verbleib in der Großen Koalition an

Aus Berlin Stefan Reinecke

Am Samstagabend um 18.08 Uhr ist klar, dass Olaf Scholz und Klara Geywitz nicht neue SPD-Chefs werden. Lars Klingbeil, für unverwüstlichen Frohsinn bekannt, schaut ziemlich betreten drein. Er hatte den langwierigen Wahlprozess gemanagt – jetzt wackelt der Job des Seeheimers als Generalsekretär. Die SPD hat zum ersten Mal seit sehr langer Zeit eine linke Parteiführung. Bei der versammelten Hauptstadtpresse im Willy-Brandt-Haus herrscht ratloses Erstaunen. Auf allzu viele Sympathien werden Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans bei den Leitmedien eher nicht rechnen können.

Fast die gesamte Parteispitze, Ministerpräsidenten wie Stephan Weil, die BundesministerInnen, die überwältigende Mehrheit der Bundestagsfraktion hatten Scholz und Geywitz unterstützt. Das Basisvotum sollte Scholz mit besonderer Legitimität ausstatten. Das war der Plan der SPD-Spitze.

Geywitz versichert tapfer, dass sie die Sieger unterstützen wird, und verlässt danach schnell das Willy-Brandt-Haus. Olaf Scholz trägt einen schwarzen Anzug und sagt, er wünsche der neuen Führung alles Gute. Es ist für den Vizekanzler, der Kanzlerkandidat der SPD werden wollte, eine herbe Niederlage. 53 Prozent zu 45 – es ist nicht einmal der befürchtete ganz knappe Ausgang geworden.

Es gibt bei dieser Wahl viel Einmaliges. Die Basis stimmt gegen die SPD-Führung. Die neuen Chefs kommen nicht aus der Parteielite. Sie waren nicht zuvor im Vorstand – und sind auch sonst untypisch für SPD-Spitzenfunktionäre. Norbert Walter-Borjans war nie Parlamentarier und hatte nie ein Parteiamt inne. Saskia Esken, erst seit ein paar Jahrenim Bundestag, spielte dort keine herausragende Rolle. Die SPD-Führung rekrutiert sich aus Juristen und Politikwissenschaftlern. Die Parteilinke Esken hat ein Studium abgebrochen, als Kellnerin, Schreibkraft und Fahrerin gejobbt, drei Kinder großgezogen, ehe sie sich als Informatikerin weiterbildete und spät in die Politik ging. Recht ungewöhnlich für eine SPD-Chefin.

Zerknitterte Verlierer, überraschte Sieger. Es ist ein Abend inniger Wünsche und beklommener Hoffnungen. Als Walter-Borjans und Esken auf dem Podium die unerwartete Siegerpose geübt und Daumen in die Höhe gereckt haben, geben sie eineinhalb Stunden lang Interviews. „Wir reichen allen, die nicht für uns gestimmt haben, beide Hände“, sagt SaskiaEsken. Die neue Führung sendet Friedensbotschaften. Nein, man werde nicht automatisch die Große Koalition beenden. Ja, Olaf Scholz werde Finanzminister bleiben. Und ja, man wisse, dass 45 Prozent nicht für sie gestimmt haben.

Aber was genau jetzt passieren wird, liegt im Nebel. Am Freitag beginnt der Parteitag in Berlin. Endet die Große Koalition? Oder geht es nur darum: Wann? Die neue SPD-Führung will mit der Union nachverhandeln. Sie hat vorab einen Katalog vorgelegt, der nach Wunschtraum klingt: 12 Euro Mindestlohn sofort, ein großes Investitionsprogramm und das Ende der schwarzen Null, ein neues Klimapaket. Alles richtig, aber mit der Union nicht ­machbar.

Manchmal klingt Esken und noch mehr Walter-Borjans auch elastischer. Man wisse ja, dass man mit der Union nicht das SPD-Programm durchsetzen werde, so Esken. Das seien erst mal die Forderungen, sagt Walter-Borjans. Dies war ein immer wieder wiederholtes Argument der beiden im internen SPD-Wahlkampf: Die SPD nehme den Kompromiss immer schon vorweg, statt allen klarzumachen, was sie fundamental von der Union unterscheidet. Angesichts der nahenden Rezession müsse sich doch auch die Union bewegen, hofft Walter-Borjans.

Muss sie? CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer und andere Unionspolitiker haben Verhandlungen bereits ausgeschlossen. Das war vielleicht etwas vorschnell. Gesprächsblockaden wirken wenig souverän.

Vom SPD-Parteitag erwartet Walter-Borjans eine „heftige Debatte um die schwarze Null“. In den paar Tagen bis Nikolaus wird es mit der Union keine Verhandlungen geben. Der Parteitag wird einen Forderungskatalog für Verhandlungen beschließen. Wie hart oder weich der ausfällt, wird der entscheidende Streitpunkt. Der Leitantrag wird auch die Blaupause sein, die anzeigt, wie das neue Machtgefüge aussieht (siehe Interview mit Karl Lauterbach).

Die SPD-Bundestagsfraktion hat angesichts von Umfragewerten bei 13 Prozent wenig Lust auf Neuwahlen. Bricht also jetzt ein Krieg zwischen Parteispitze und Fraktion aus? Walter-Borjans äußert sich da sibyllinisch: „Zwischen Partei und Fraktion ist ein Spannungsfeld nötig und richtig. Die Fraktion muss wissen, wo ihre Loyalitäten liegen“. Wenn die Partei aber den Ausstieg aus der Groko beschließe, müsse die Fraktion folgen.

Kündigt sich da ein unausweichlicher Machtkampf zwischen der neuen Parteispitze und der Fraktion an? Aus der Fraktion kommen differenzierte Wortmeldungen. Der eigenwillige bayerische Bundestagsabgeordnete Florian Post, kein Parteilinker, sagt der taz zu dem drohenden Konflikt zwischen Fraktion und Parteispitze: „Wenn es so kommt, fürchte ich mich davor.“ Die Parteispitze sei nun direkt von der Basis gewählt worden und verfüge daher über besondere Legitimität. „Die beiden haben das Recht, die Marschrichtung vorzugeben“, so Post. Auch den Bruch der Groko hält er für möglich. Wenn die Union sich jeder Debatte über neue Inhalte verweigere, sehe er wenig Zukunft für die Groko.

Auch Michael Schrodi, Bundestagsabgeordneter aus München und moderater Linker, hofft, dass sich eine neue, profilstarke Parteiführung mit der Fraktion verträgt. Das Ergebnis zeige: „Der Wille in der SPD, Neues zu wagen, ist groß.“. Schrodi hat, wohl als einer von wenigen in der Fraktion, für Esken und Walter-Borjans gestimmt. Er sieht die Große Koalition aber keineswegs automatisch auf dem absteigenden Ast. „Es geht um beides: Wir regieren ja nicht schlecht. Und wir können nun mit dieser Parteiführung klarer machen, was wir wollen.“ Schrodi hält nicht die Groko für das Schlüsselproblem der SPD, inhaltliche Unklarheiten in den eigenen Reihen. Beim Parteitag in Dortmund habe man zwei zentrale Fragen an Kommissionen verwiesen: die Vermögensteuer und das künftige Rentenniveau.

Norbert Walter-Borjans

„Eine Schlacht zwischen Parteispitze und Fraktion wäre fatal für die Sozialdemokratie“, sagt Cansel Kızıltepe. Die Berliner Parteilinke gehört zu der kleinen Gruppe von Bundestagsabgeordneten, die die Groko seit Langem mehr als skeptisch sehen. „Das ist ein starkes, eindeutiges Ergebnis für Esken und Walter-Borjans“, so Kızıltepe am Samstagabend im Willy-Brandt-Haus. Es zeige, dass es kein „Weiter so“ mehr gibt. Wie alle mahnt auch Kızıltepe Einigkeit an. Es gelte, das Votum der Basis zu akzeptieren. Bei 13 Prozent in den Umfragen sei die SPD an einen Punkt angelangt, an dem es um alles gehe. „Das ist unser letzter Schuss“, sagt sie.

Aber auch Rolf Mützenich, Chef der SPD-Fraktion und ein SPD-Linker, hat sich erst vor ein paar Tagen im Bundestag zu der Großen Koalition bekannt. Manche Seeheimer, der rechte Parteiflügel also, reden abfällig über Saskia Esken. Eine Frage lautet, ob die SPD-Rechten die Autorität dieser Führung wirklich respektieren – oder ob sie das Ganze eher für einen bedauerlichen Unfall halten, dessen Schaden man möglichst schnell reparieren wird.

AmMontag trifft sich der geschäftsführende Vorstand der Bundestagsfraktion. Am Dienstag und Mittwoch tagen die Parteigremien. Am Freitag soll der Parteitag die neue SPD-Spitze wählen. Eine Gegenkandidatur halten ziemlich alle in der Partei für ausgeschlossen – sie würde das gesamte langwierige Prozedere dieser Wahl dementieren.

Olaf Scholz will offenbar Finanzminister bleiben. Arbeitsminister Hubertus Heil, der in der SPD wegen der Grundrente ein gutes Standing hat, will als Vizechef kandidieren. Heil will, wie alle anderen SPD-MinisterInnen im Kabinett, auf jeden Fall weiterregieren. In den kommenden Tagen wird ausgehandelt, wie die neue Machtverteilung in der Partei aussehen wird. Der SPD-Vorstand war bis jetzt klar auf die Fortführung der Koalition bis 2021 geeicht.

Esken und Walter-Borjans scheinen der Union ein Maximalprogramm auf den Tisch legen zu wollen. Kommen sie damit durch? Wenn ja, wäre das Ende der Regierung nur eine Frage der Zeit. Das Blame Game um das Ende der Groko beginnt.