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der rote fadenVon Kreuzberg über Mölln zur Nordsee

Foto: David Oliveira

Durch die Woche mit Ebru Taşdemir

Wenn ich mal rauskomme aus meinem Kreuzberger Dorf und unterwegs bin in Deutschland, denke ich oft den Satz „Ach nee, sieh an, auch das ist Deutschland“. Vor allem geschieht das, wenn ich in Gegenden bin, wo ich a) ziemlich voreingenommen hinfahre (Sachsen, Brandenburg, you name it) und überrascht bin, doch wenigstens eine coole oder zumindest freundliche Person dort zu treffen, oder b) wenn ich in Gegenden fahre, die in solch einem krassen Gegensatz zu dem stehen, was ich aus meinem Berliner Alltag kenne.

Brandanschlag

In der vergangenen Woche war ich zum ersten Mal an der Nordsee. Auf einer der größten Nordseeinseln, auf Norderney, um genau zu sein – rein beruflich. Gibt Schlimmeres, würden die Norddeutschen einen Arbeitstermin auf Norderney kommentieren, während man sich bei uns in Berlin schon mega rufend und jubelnd in die nächste Düne werfen würde. Nicht wundern also, in dieser Woche gibt es fast nur Nachrichten von der Insel.

An meinem Anreisetag bekomme ich noch über Twitter mit, dass Idil Baydar die Möllner Rede im Exil doch in Frankfurt gehalten hat, trotz konkreter Morddrohungen. Das Stresspotenzial, dass im Vorfeld durch solch eine Morddrohung aufgebaut wurde, hat die Kabarettistin durch eine enorme Entschlossenheit, diese Rede zu halten, abgebaut. Die Möllner Rede im Exil wird seit dem rechtsradikalen Brandanschlag in Mölln 1992 von Freunden und der Familie Arslan organisiert. Ayşe, Yeliz und Großmutter Bahide Arslan starben in den Flammen, viele der Familienmitglieder überlebten schwer verletzt, so wie Ibrahim Arslan. Anlässlich des Gedenkens erinnerte die Stadt Mölln jedes Jahr an den Mord, doch ab Jahr vier nach Mölln fand man es besser, nicht mehr die Familie entscheiden zu lassen, wer diese Rede hält. Die Möllner Rede wird seitdem im Exil gehalten, in diesem Jahr eben in Frankfurt, Idil Baydar sollte sie halten. Das die Comedienne Baydar schon mehrere Morddrohungen in diesem Jahr erhalten hat, macht diese Rede umso aktueller. Nun wurde sie also unter Polizeischutz gehalten. Seltsamerweise war das 1. Frankfurter Polizeirevier damit beauftragt, wie die Kollegin Ayesha Khan in der taz vom 18. 11. berichtete. Aus diesem Revier wurden die rassistischen Drohfaxe an die NSU-Opfer-Anwältin Seda Başay-Yıldız verschickt. Auch das ist Deutschland. Während ich also am Montag noch nachlese, wie die Veranstaltung war, trinken Rentnerpärchen gemütlich ihren Kaffee.

Fischbrötchen

Ich komme ja auch von einer Insel. Berlin vor dem Mauerfall. Es ist natürlich kein Vergleich zu dem Inselstatus von Norderney. Berlin verband ich mit dem Inselvolk der Linken, Arbeiter*innen und Aussteiger, Wohlstand trug man nicht auf die Berliner Straßen. Anders dagegen auf der Nordseeinsel: gediegene Boutiquen, wenige, silbern glänzende Mülleimer, aus denen nichts quillt, nirgends ein Döner und sogar die Fast-Food-Läden sind eher Bistros mit Sektchen oder Schnäppsken zum Schnitzelbrötchen.

Kriminelle Möwen

Während einem in Kreuzberg jederzeit ein leinenloser Hund entgegenhechten könnte und die Be­woh­ner*innen sehr geübt darin sind, sich auf die andere Straßenseite oder in einen Hauseingang zu retten oder eben stoisch stehen zu bleiben – man könnte ja umgerannt oder ,noch schlimmer, abgeschlabbert werden – kommt hier das Tier heimtückisch von oben.

Hirtenkäse

Fischbrötchen in der beschaulichen Fußgängerzone zu essen kann eine gute Idee sein. Meistens ist es aber keine: ein Möwenclan hat das Sagen hier im Revier, sie spähen hinterlistig die Tür zum renommierten Fischbrötchen-Laden aus und lauern auf dumme, unvorsichtige und hungrige Nicht-Norderneyer. Die jedoch denken, dass das ja mal ganz gemütlich wäre, schaufenstergucken und dabei gemütlich das Brötchen zu verspeisen. Aber kaum steht man schon am ersten Schaufenster mit Keramikschalen für 55 Euro, fliegt eine der Möwen schon von hinten auf das Fischbrötchen in der Hand zu und fliegt nur millimeterknapp über den Kopf hinweg. Diese Anfliegtaktik verbreitet Panik und Schrecken und ich wette, viele Norderney-Touris lassen ihr Brötchen einfach so auf den supersauber geputzten Bürgersteig fallen. Die Beute wird unter den Möwen aufgeteilt, die Dunkelziffer der kriminellen Möwen ist womöglich höher, als es sich die Norderneyer eingestehen wollen.

Im Hotelzimmer liegt ein Reiseführer für die Insel, der ungefähr die kleinere Version eines Otto-Katalogs ist, so dick und so kompakt. Dort gibt es auf den ersten Seiten viel Werbung für mediterran eingelegten Hirtenkäse aus Ostfriesland (Integration ist keine Einbahnstraße) und eine Hochzeitsstrecke auf den hinteren Seiten. Das betuliche Norderney-Magazin wirbt hier mit einem queeren Pärchen für seine Hochzeitssaison und irgendwie ist die Insel dann doch viel näher an meinem Kreuzberg dran, als ich es für möglich gehalten hätte. Auch das ist also Deutschland.

Nächste Woche Ariane Lemme

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