: Im Hochhaus spitzt sich alles zu
Mit „Les Misérables“ von Ladj Ly beginnt heute die 19. Französische Filmwoche. Der Film, ausgezeichnetin Cannes, erzählt von einer sozialen Ordnung in der Banlieue von Paris, die der Staat nicht vorgesehen hat
Von Ekkehard Knörer
Der Junge Tissa klaut ein Löwenbaby aus dem Zirkus, damit gerät das fragile Gleichgewicht der Kräfte ins Taumeln. Der Zirkus wird von einer Gruppe von Sinti und Roma betrieben. Sie beschweren sich lautstark bei Le Maire, dem „Bürgermeister“, einem Mann, der bei den deklassierten schwarzen Bewohnern Montfermeils viel Einfluss besitzt. Mächtiger noch ist Salah, Ex-Gangster, nun Betreiber eines Döner-Ladens und Chef der Muslimbrüder vor Ort.
Als Hüter einer sehr fragilen Ordnung fungieren sie alle, höher hinauf in die Politik blickt Ladj Ly in seinem Spielfilmdebüt „Les Misérables“ nicht. Denn die Exekutivorgane des Rechts und Vertreter des Staats, die er ins Zentrum seines Films rückt, drei Polizisten, stehen nicht über, sondern stecken mittendrin in dieser Ordnung, wie sie die französische Verfassung nicht vorsieht. Als lokale Polizeichefin hat Jeanne Balibar einen kurzen Cameo-Auftritt, im Machtgefüge der Straße spielen Frauen aber keine große Rolle.
Das Polizeiteam im Zentrum besteht aus drei Männern. Da ist Chris (Alexis Malentis), weiß, brutal, ein Grenzüberschreiter. Da ist Gwada (Djibril Zonga), schwarz, überfordert, einer, der bei den Grenzüberschreitungen seines Partners nicht interveniert und dann selbst in einer Art Blackout so richtig Scheiße baut. Und da ist vor allem Pento (Damien Bonnard), der an seinem ersten Tag in Montfermeil im Fond des Wagens von Chris und Gwada mit der Lage der Dinge vertraut gemacht werden soll. Mit ihm geht es von der ersten Minute an, ohne viel Orientierung, mit viel Handkamera, in medias res.
Gwada hat Tissa, den Löwendieb, mit einer Plastikkugel aus nächster Nähe schwer verletzt. Buzz, ein anderer Junge, hat den Vorfall zufällig mit seiner Drohne gefilmt. Die Muskelmänner vom Zirkus jagen den Dieb, die Polizei jagt erst den Dieb, dann Buzz und die Speicherkarte der Kamera, die Situation eskaliert, Le Maire und Salah versuchen zu schlichten. In einem der Sozialbau-Hochhäuser spitzt sich dann alles zu: Tissa und andere Jungs attackieren mit Molotowcocktails und anderen Waffen die Polizisten. Ladj Ly erzählt das mit Tempo, meist quasi-dokumentarisch, mit kurzen musikunterlegten retardierenden Momenten dazwischen.
Die Straßen und Häuser der Stadt, über die sich nur die Drohnenkamera von Buzz gelegentlich erhebt, sind dabei mit großer Selbstverständlichkeit vermessener Schauplatz.
Das ist kein Zufall, denn Ly ist als Kind malischer Eltern selbst in Montfermeil aufgewachsen, der kleinen Stadt in der Banlieue von Paris, in der „Les Misérables“ spielt. Er hat eine Doku über die Stadt und die gewalttätigen Unruhen gedreht, zu denen es hier vor mehr als zehn Jahren kam. Die Geschichte von Buzz und der Drohnenaufnahme ist seinem eigenen Leben entlehnt: Auch er hat damals Polizeibrutalität gefilmt, die Polizisten wurden aufgrund der Bilder verurteilt. Der Victor-Hugo-Titel des Films kommt nicht von ganz ungefähr. Der Ort ist nicht nur ein wichtiger Schauplatz des Romans, mit einem Hugo-Zitat gibt Ly am Beginn des Abspanns auch die Deutung der verfahrenen Lage: „Es gibt kein Unkraut“, heißt es da, „es gibt nur schlechte Gärtner.“
Das geht in Richtung französischer Staat. Als Staatsaffäre wird „Les Misérables“, der zum Auftakt der Französischen Filmwoche in Berlin läuft, dann auch gesehen. Der Film hat in Cannes sehr zu Recht den Preis der Jury gewonnen und Emmanuel Macron bei einer Privatsichtung im Élysée-Palast dem Vernehmen nach schwer beeindruckt.
Ein bisschen schade aber ist es doch, dass er der Filmwoche offenbar wichtiger als andere ist. So war vorab leider keine Sichtung von Mamadou Dias in Locarno dekoriertem Film „Nafi’s Vater“ möglich, der sich mit dem muslimischen Fundamentalismus im Senegal befasst. Stattdessen gab es den „Ziemlich beste Freunde“-Nachfolger „Hors Normes“ (der deutsche Titel ist dämlicher: „Alles außer gewöhnlich“) von Olivier Nakache und Éric Toldeano zu sehen. Er setzt zwei real existierenden Helden und ihrem jüdisch-muslimisch-menschlichen Fürsorgekampf für Autist*innen ein sympathisches Denkmal und ist mit Vincent Cassel und Reda Kateb toll besetzt.
Filmisch trotzdem eine Quantité négligeable, was nach allem, was man dazu lesen kann, für Louis Narbonis „Chanson triste“ keineswegs gilt. Das ist ein spannend klingender doku-fiktionaler Hybrid mit Musik um eine Opernsängerin, die sich eines jungen Flüchtlings annimmt. Aber vorab zu Gesicht bekam ich auch diesen Film leider nicht.
Ab heute bis 4. Dezember geht die Französische Filmwoche, elf Kinos sind beteiligt. info www.franzoesische-filmwoche.de
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