: Geistertanz auf dem Vulkan
Eher Collage als Choreografie: Der Dance Company Osnabrück gelingt mit „Geister“ ein beeindruckend kreativer Spielzeitauftakt über den Abschied des Menschen von der Erde
Von Jens Fischer
„Geister“ ist der jüngste Abend der Dance Company des Theaters Osnabrück überschrieben, Zombies assoziieren die einen, an Gespenster im Bettlakenkostüm oder rein geistige Wesen denken andere. Schemenhaft designt kommt der Prolog daher, den Tanzspartenchef Mauro de Candia als Choreograf, Bühnen- und Kostümbildner gestaltet: „Traum im Traume“.
Eine opake Leinwand versperrt den Blick auf die Bühne, ihre Oberfläche changiert in schönster Farbwechselei von Paradiesgrün über Höllenrot zu Himmelblau. Schwirrende und zwitschernde Klänge Krzysztof Pendereckis brausen durch den Raum. „Was soll das, man sieht ja nichts“, ist im Publikum zu hören. Denn was ein – laut Besetzungsblatt – Tanzquartett gerade so als Arbeitsnachweis anbietet, ist zu Beginn tatsächlich nicht einmal zu ahnen. Erst nach und nach deuten diffuse Schatten auf der Leinwand vom augenscheinlich nackten Treiben hinter der Sichtblende.
Ephemere Gestalten gewinnen immer mal wieder als Silhouette an Kontur, ihre Bewegungen an Klarheit. Schließlich beim Anschmiegen an die Leinwand auch an dreidimensionaler Plastizität. Ein faszinierendes Arrangement: als schaute man von oben auf einen zugefrorenen See und entdeckte unter der dicken, die Blicke unscharf im Trüben fischen lassenden Eisschicht einige Lemuren, die gen Oberfläche ballettieren und sich dabei physisch manifestieren. Sieht wirklich toll aus.
Aber was soll das? Dramaturgin Patricia Stöckmann schreibt dazu ins Programmheft: „Schemenhafte Gestalten lichtern umher und entziehen sich jeglicher Eindeutigkeit und Greifbarkeit.“ Okay, also muss jeder selbst überlegen, ob diese formvollendete Stilübung von artifizieller Wesenslosigkeit ist oder auch etwas zu bedeuten hat.
Das genaue Gegenteil, nämlich ein dringliches Thema von globaler Dimension als Ausgangspunkt einer auch tänzerischen Auseinandersetzung zu nehmen, versucht Ben J. Riepe mit „Geister (say goodbye)“. Ganz konkret will er die Bedrohung irdischer Biotope durch die ausbeuterische Herrschaft des Menschen auf dem blauen Planeten bewusst machen.
Da steht dann das komplette Ensemble, von Gwen Wieczorek in Reste schnieker, weißer Kostüme geschweißt, auf der nun unverhängten Drehbühne. Mit weit schwingenden Armen und zähnebleckendem Lächeln wirft es sich in Posen und stellt die Anmut koketter Drehungen, Wendungen sowie Bewegungszierrat selbstgenießerisch aus. Wünsche, Obsessionen und Ängste scheinen auf.
Yi Yu nimmt das Mikro in die Hand – ja bei Riepe dürfen, sollen, müssen Tänzer auch sprechen. Der chinesische Künstler erzählt von seiner Mutter, die in Jugendjahren in einem Fluss ihrer Heimat baden konnte, der heute mit Industriegiften zu Tode verdreckt ist. Er erzählt von seiner Zeit in Peking, wo er mit Atemschutzmaske herumlaufen musste und weder Mond noch Sterne sehen konnte – aufgrund der Luftverschmutzung.
Andere aus dem Ensemble treten hinzu, alle plappern ihre „Fridays for future“-Statements durcheinander. Zwei Männer auf Kothurnen umkreisen das Geschehen und zählen den Countdown bis zur Apokalypse, während Kollegen gern die Diagonale als Laufsteg nutzen.
Bald herrscht wieder Schweigen. Eitle Verrenkungen entgrenzen die Tänzer gänzlich unakademisch in Zappelphillipp- oder mechanisieren sie in Hampelmannmanier. Machen einfach immer weiter – wie wir Menschen mit der Zerstörung unserer Lebensgrundlage, soll das wohl heißen. Die treibende Klangcollage verweist dazu mit Vivaldi-, Jazz- bis Techno-Zitaten auf die Historie des Tanzens auf dem Vulkan.
Zu Marschmusik und Sirenengeheul werden schließlich Stühle umgeschmissen, das Ensemble windet sich tödlich krampfend auf dem Boden herum und feiert die Wiederauferstehung ihrer Körper mit einer Gospel-Darbietung. Ja, bei Riepe dürfen, sollen, müssen die Tänzer auch singen. Und die Bühne verlassen, um das Publikum zu umarmen. Immer wieder treten Solisten zudem mit Schmerzenstänzen aus der Gruppe heraus, nur um wieder zurückgeholt zu werden ins strahlengesichtige Absolvieren aparter Arabesken des zeitgenössischen Balletts.
Später tritt Hampus Larsson vors Publikum und rezitiert sein „goodbye poem“: verabschiedet sich von den Eisbären, Dschungeln, abgasfreien Windbrisen, dem Golfstrom – und behauptet: „Computers, well maybe they’ll be there forever / but the world as we know we’ll see again never“. Tote Bäume schweben aus dem Bühnenhimmel herab. Ja, das ist alles schon ein bisschen prätentiös.
Aber auch lustig. Wenn ein paradiesischer Neuanfang versucht wird – zu erleben als ironischer Tanz eines Affenmanns mit beischlafwillig zuckender Hüfte und schwerst verknoteter Schlangenfrau. Oder die gesamte Company versucht mit einer Schreitherapie den Niedergang des Anthropozäns zum Guten zu wenden, während auf Bildschirmen Feuerbrünste vom Bösen und demonstrierende Indigena vom Widerstand künden.
Worauf eine dystopische Utopie folgt. Das vielseitig mit stupender Technik und Präzision agierende Ensemble verwandelt sich mit lässig stolzer Geschmeidigkeit in eine majestätische Löwenherde, die sich liebkost und friedlich einschläft. Die Menschen sind nur noch Geister der Vergangenheit, so könnte man hineindeuten in diese Produktion, die an der Schnittstelle zwischen Bewusstem und Unbewusstem angesiedelt ist, aber weniger Choreografie, eher eine skurrile Collage bewegter, klingender, sprechender, apart illuminierter, atmosphärisch vielfältig schillernder Bilder, aufgeladen mit religiösen und kunsthistorischen Motiven.
Mit welcher Überzeugungskraft die Dance Company die elegant ornamentale Körpersprache ihres Chefs Mauro de Candida beiseite lässt und dank Riepe eine andere Art des Erzählens, Tanzens und Inszenierens feiert, das zeugt von kreativer Neugier und tänzerischer Kompetenz. Beeindruckend.
Geister: Fr, 22. 11., und Fr, 29. 11., 19.30 Uhr, Osnabrück, Theater am Domhof. Weitere Termine: 6., 14., 26., 29. 12.
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