die woche in berlin
: die woche in berlin

Berlin feiert 30 Jahre Mauerfall – und macht das irgendwie richtig. Die Macht der Radfahrerlobby kann Fußgänger*innen manchmal neidisch machen: Beispiel Oberbaumbrücke. Eltern auf Kitaplatzsuche sind dagegen kaum zu beneiden. Da hilft auch der neue Kita-Navigator nicht

Huuuiii – die Helikopter-Radfahrer

Als Fußgängerin schaut man mit Neid auf die Radlobby

Hat eigentlich schon mal jemand die Breite des Gehwegs auf der Oberbaumbrücke nachgemessen? Zugegeben, die Oberbaumbrücke ist mit ihren luxuriösen Arkaden für Fußgänger ein eher schlechtes Beispiel in diesem Fall. Doch nicht überall in Berlin flaniert man so bequem. Und man kann sich als passionierte Fußgängerin schon manchmal und durchaus neidvoll darüber wundern, wie schnell und wirksam Radfahrer*innen in Berlin ihren Einfluss geltend machen.

Da wird ein Radweg zu schmal gebaut (15 Zentimeter – im Handwerkermaß etwa eine Faustbreite mit abgespreiztem Daumen) und von der Radfahrer*innenlobby folgerichtig heftig kritisiert. Prompt tritt an diesem Dienstag gleich die zuständige Senatorin persönlich auf und gelobt Nachbesserung.

Das ist natürlich ganz richtig so – aber aus der Perspektive etwa von Se­nio­ren­ver­treter*innen, die sich Ampelzeiten wünschen, bei denen es auch ein älterer Mensch weiter als bis zum Mittelstreifen schafft, oder aus der Sicht von Eltern, die jahrelang ergebnislos für Zebrastreifen oder Fußgängerampeln für den Schutz des Schulwegs ihrer Kinder kämpfen (und dafür ironisch als Helikop­ter­eltern diffamiert werden), doch irgendwie auch ein bisschen trostlos.

Klar: Bei der viel zitierten Berliner Verkehrswende geht es in erster Linie darum, Autos aus der Stadt zu verdrängen, und das ohne Frage aus wichtigen und richtigen Gründen. Um die Sicherheit aller Ver­kehrs­teilnehmer*innen geht es aber eben nicht. Gern ist im Zusammenhang mit der Verkehrswende – auch in der taz – von einem „Krieg auf den Straßen“ die Rede: ein Bild, das suggeriert, dass sich Rad- und Autofahrer*innen auf die Straßen begeben, um möglichst viele der jeweils anderen Gruppe ums Leben zu bringen oder wenigstens kampfunfähig zu machen und den Gegner so zu dezimieren. Und ein Bild, in dem Fuß­gän­ge­r*innen nicht vorkommen. Sie sind – wie bei Kriegen die Bevölkerung – Kollateralschäden und als solche von beiden Kriegsparteien bedroht.

Tatsächlich sind Fußgänger*innen die häufigsten Todesopfer bei Verkehrsunfällen: 19 der 45 Berliner Verkehrstoten waren 2018 Fußgänger*innen (Rad­fah­re­r*innen 11, Autofahrer*innen 3, Mo­tor­rad­fah­rer*innen 9), 2017 waren es 13 von 36. Doch soll hier weder Opferranking betrieben noch das abscheuliche Kriegsbild weiter bedient werden. Im Gegenteil: Wünschenswert wäre, sich genau von diesem zu verabschieden zugunsten einer verkehrspolitischen Friedenspolitik, bei der sich alle Verkehrsteilnehmer*innen gleichermaßen darauf verlassen können, dass ihre Anliegen für mehr Sicherheit Berücksichtigung findet – auch die ohne einflussreiche politische Lobby. Vielleicht würde es dabei helfen, wenn Po­li­ti­ke­r*innen öfter mal zu Fuß gingen.

Alke Wierth

Der ganz normale Wahnsinn

Der Kita-Navigator ist da – und funktioniert leider nicht

Wenn das Ding funktionieren würde, wäre es einer der größeren Würfe von Jugendsenatorin Sandra Scheeres (SPD): der Kita-Navigator, eine Art Onlineportal der Jugendverwaltung, auf dem alle Kitas fleißig, akribisch und stets aktuell vermerken sollen, wie viele Plätze gerade frei sind für Kinder von notorisch verzweifelten Eltern auf Kitaplatzsuche. Tatsächlich ist dieser Navigator seit Mittwoch freigeschaltet – allein, er tut nicht, was er soll, nämlich freie Plätze anzeigen.

Zum Beispiel die Kita Pankekinder 2 in Pankow. Der Kita-Navigator weist freie Plätze ab November aus, also ab sofort. Das kling gut. Gerade mitten im Kitajahr ist es oft besonders schwierig, einen Platz zu bekommen – dann sind die durch die Schulkinder im Sommer frei gewordenen Plätze längst belegt. Einen Klick weiter auf der Homepage der Pankekinder 2 heißt es dagegen, man habe zwar freie Plätze – aber, wenig überraschend, erst ab Sommer 2020, also zum Wechsel des nächsten Kitajahres. Wer auf die Warteliste aufgenommen werden möchte, möge eine Mail schreiben oder anrufen.

Also doch wieder das Übliche, nämlich der ganz normale Wartelistenwahnsinn: Alle lassen sich bei möglichst vielen Kitas gleichzeitig registrieren und sind dann verzweifelt, weil sie irgendwo auf dem scheinbar aussichtslosen Platz 382 stehen.

Genau da soll der Kita-Navigator eigentlich ansetzen – weg von der dezen­tralen Listenwirtschaft, bei der jede Kita nur bis zur eigenen Gartenpforte gucken kann, hin zu einem zentralen Platzerfassungssystem, das die aufgeblähten Wartelisten bereinigen würde.

Scheeres hatte am Donnerstag, nach einigen kritischen Medienberichten, an die Adresse der Kitas gemahnt, es komme jetzt darauf an, „dass die Kitaträger mitziehen“ und ihre Daten aktualisierten.

Doch ob die das tun? Mag sein, dass Scheeres versucht, die Kitas mit diesem Portal unter Druck zu setzen – denn sie kriegen den Frust der jetzt erst recht verwirrten Eltern als Erste ab. Kann aber auch sein, dass die Kitas trotzdem weiter mit ihren Listen in der Schreibtischschublade operieren. Geschwisterkinderbonus, Förderkind, was auch immer – in den meisten Kitas ist eh nie wirklich ein Platz frei. Könnte sein, dass die Eltern am Ende mehr rotsehen, als Scheeres lieb sein kann. Anna Klöpper

Schluss mit dem Mauern

Berlin erinnert an den Mauerfall – es geht nicht nur ums Feiern

Gänzlich unerkannt läuft Michael Müller durch die Menge am Alexanderplatz. Es ist Montagabend, der 4. November. Vor 30 Jahren hat hier die vielleicht größte Demo der deutschen Geschichte stattgefunden: Rund eine halbe Million Menschen fordern Meinungsfreiheit und Reformen für die politisch und wirtschaftlich marode DDR. Fünf Tage später fällt die Mauer, und einige Monate darauf ist auch der ganze Staat Geschichte.

An diesem 4. November 2019 geht es nicht um Müller, sondern um die jüngste Vergangenheit und darum, wie sie die Gegenwart prägt. Das ist dem Regierenden Bürgermeister bewusst, der den rund tausend ZuschauerInnen auf dem Alex bei der Eröffnung der einwöchigen Feierlichkeiten zum 30. Jahrestag des Mauerfalls nicht nur viel Spaß, sondern auch viele neue Erkenntnisse wünscht. Und eine Parallele zieht: Damals wie heute sei es wichtig, aufzustehen für die Freiheit. „Wir kämpfen gegen jede Form der Ausgrenzung“, erklärt Müller, und es ist offensichtlich, dass er damit auf die AfD anspielt und deren jüngste Erfolge bei Landtagswahlen im Osten.

Kurz darauf werden Filmausschnitte von 1989 auf die Hausfassaden am Platz projiziert: Bilder von Michail Gorba­tschow und DemonstrantInnen, von Egon Krenz und den Feiern auf der Mauer. „Das war schon Wahnsinn damals hier“, sagt eine Frau im Publikum, sichtlich berührt. Und wer durchs Publikum streift, hört Geschichten wie die von einem eins­tigen Theatermacher, den die Stasi ­damals ­daran hinderte, zur Demo auf dem Alex zu kommen, weil sie die Züge blockierte.

An insgesamt sieben historischen Orten erinnert Berlin an diese Zeitenwende, mit insgesamt 200 Veranstaltungen. Es gibt die große Sause am Brandenburger Tor am Abend des 9. November, dem eigentlichen Jahrestag, mit Daniel Barenboim und Westbam. Aber es gibt vor allem viele kleinere Angebote an sieben für den Mauerfall historisch bedeutsamen Orten, etwa in der Gethsemanekirche in Prenzlauer Berg und in der früheren Stasi­zentrale in Lichtenberg.

Bei vielen Veranstaltungen geht es um Dialog: zwischen jenen, die dabei waren, und jenen, die damals vielleicht im Westen der Stadt lebten oder noch gar nicht geboren waren. Es soll um die Fragen gehen, was erreicht wurde und warum die Hoffnungen vieler DDR-BürgerInnen letztlich doch enttäuscht wurden. Es gibt eine App, Workshops, Projektionen, Filmvorführungen mit Diskussion.

30 Jahre ist der Fall der Berliner Mauer jetzt her, und diese 30 Jahre hat es auch gedauert, bis Berlin endlich einen angemessenen Umgang mit dem für die Stadt wichtigsten Ereignis seit 1961 gefunden hat. Viel Zeit. Aber vielleicht braucht es eine Generation, eine neue Generation, um die Trunkenheit der Wendezeit nüchtern und analytisch zu betrachten. Und irgendwie auch zu feiern. Die PolitikerInnen trauen sich dieser Tage nicht mehr, Versäumnisse und Fehler mit salbungsvollen Phrasen zu übertünchen; die blöde Frage, ob die „Mauer in den Köpfen“ noch steht, spielt keine Rolle mehr. Denn vielen ist inzwischen klargeworden: Es ist alles ein bisschen komplizierter gewesen und geworden mit den Ost- und den Westdeutschen und ihrer gemeinsamen Gesellschaft. Bert Schulz

Die blöde Frage, ob die „Mauer in den Köpfen“ noch steht, spielt keine Rolle mehr

Bert Schulz über die Feierlichkeiten zum 30. Jahrestag des Mauerfalls