wortwechsel
: Erinnerungsmarathon –30 Jahre Mauerfall

Für viele Geschichten aus der DDR scheint die Zeit erst noch zu kommen. Erstaunlich?
taz-LeserInnen wünschen sich mehr Aufmerksamkeit für die schönen Seiten der DDR

„Ball der Bestarbeiter“, Palast der Republik in Ostberlin. (25. 10. 1981) Foto: Thomas Sandberg

„Größter deutscher Öko-Erfolg:

Die DDR“, taz vom 8. 11. 19

Da war die DDR echt öko

Recht umweltfreundlich an der DDR war auch die – von den Bürgern freilich im Grunde beklagte – Nichtexistenz von Plastikeinkaufstüten, sodass die sporadisch von der Westverwandtschaft mitgebrachten „werbefreipflichtig“ einführbaren Tüten ohne viel Pfleglichkeitskrampf lange ihre Dienste taten, wohingegen die „Meerschweine“ aus dem Westen jahrzehntelang täglich meist gleich mehrere pro Person kauften und als notwendige Konsequenz dieses inflationären Verbrauchs nun gar keine mehr bekommen. Wolfram Hasch, Berlin

Tempo 100 auf der Piste

ich ergänze mal: krass, aber inner ddr gab’s ein tempolimit. jaaa, ohne scheiss! 80 sachen auf der landstrasse, 100 auf der piste. wie im übrigen europa auch. nur die nazis im westen, die durften brettern. naja, gott sei dank seit 1990 wir ja auch wieder. auf sicheren strassen. was ist denn eine sichere strasse? alleebäume weg? begradigt? damit die freien bürger zur arbeit ballern können? außerdem: textilien und nahrungsmittel wurden in der ddr im grossen massstab vor ort hergestellt. unglaublich, oder? keine äpfel aus neuseeland. selten – achtung! – südfrüchte! ich lach mich schlapp – der ganze verseuchte mist vom andern ende der welt. inner zone hätt ich für die wolle von meinen drei schafen tatsächlich geld bekommen. damit wären wir bei Ergänzung Nummer drei: kleinbäuerliche landwirtschaft ist nämlich gefördert worden. strassenränder waren begehrt. viele tiere fressen gern gras. ein unimog für millionen, der strassenränder mäht, war jedenfalls überflüssig. Boris Krumm, Frohburg

„Erinnerung to go“, taz vom 9./10. 11

Auch schöne Zeiten

Vielleicht könnte es einfach an der Zeit sein, nicht immer nur über die Diskriminierung von Ostdeutschen zu reden, sondern etwas dagegen zu tun. Und damit meine ich nicht irgendwelche Geldspenden aus dem Westen. Wir haben in Deutschland eine schreckliche Erinnerungskultur, eigentlich gar keine, was die DDR angeht. Ich bin Nachwendekind aus Berlin, und hab gehälftelt Familie aus Osten und Westen. Ich habe drei Jahre bei Bonn studiert und hab mich plötzlich so ostig gefühlt. Denn die Menschen dort wussten einfach nichts über den Osten. Außer dass er eine Diktatur war, es die Stasi gab und die Leute irgendwie hinter ner Mauer gehockt haben. Und dass die BRD besser ist. Aber diese Ignoranz der Ostgeschichte Deutschlands gegenüber ist kein Westphänomen. Es gibt einen riesigen Bereich Ostdeutschlands, in dem die Menschen ihre eigene Vergangenheit ausschließlich mit Verachtung betrachten. Positive Erinnerungen äußern sie nur zögerlich, fast schuldbewusst. Sie schämen sich dafür, auch schöne Zeiten in der DDR erlebt zu haben! Aber die DDR gab es 40 Jahre – wie kann man 40 Jahre seines Lebens mal eben vergessen? Kein Wunder, dass es vielen Ossis damit nicht gut geht, wem ginge es damit schon gut? Natürlich gab es viel Schlimmes in der DDR. Die Diktatur, der Antisemitismus, der Rassismus, all das war schlimm. Aber auch berechtigte Kritik kann man nicht üben, wenn man sich nicht die Mühe gibt, das Leben in der DDR komplex zu betrachten und auch den schönen Bereichen einen Platz einzuräumen. Wenn in meiner Ostfamilie jemand Hilfe braucht, dann wird er weitergereicht, über Freunde von Freunden von Freunden, bis er da ankommt, wo er Hilfe bekommt. Ich weiß nicht, ob das was mit dem Osten zu tun hat, aber aus meiner Westfamilie kenne ich das nicht. Tara Mauritz, Berlin

Freiheit unter Brüdern?

Aus meiner persönlichen Sicht: Wer ohne zwingende Not einem Menschen, einem Tier oder der Erdkugel einen Schaden zufügt, der überschreitet die Grenzen der Freiheit und verletzt damit die Freiheit. Nur Michail Gorbatschow machte den Mauerfall möglich. Alles, was in diesem Zusammenhang vor und nach dem Mauerfall passierte, war die Folge von Gorbis Tat. Das Streben und Schreien nach Überfluss, Luxus, Mobilität und Konsum des Westens war nicht die Ursache des Mauerfalls. Beim Zusammenführen der beiden deutschen Staaten blieb die Frage offen, ob die Würde derjenigen DDR-Bürger gewahrt wurde, die meinten, dass die DDR „ein souveräner Staat bleiben“ solle. Es wäre doch eigentlich normal gewesen, dass der große Bruder dem kleinen Bruder bei Bedarf bedingungslos (!) hilft.

Volker Freiesleben, Köln

Aus stark wird gut?

„Die letzte Schlacht am Checkpoint Charlie“, taz vom 9./10. 11.19

Der Mauerfall und die deutsche Wiedervereinigung, ein starkes Stück Geschichte. Doch so außergewöhnlich und großartig die Wucht des Augenblicks in jenen Novembertagen 1989 auch war, alles was danach kam, konnte nur mit Desillusionierung und Frust verlaufen. Die Deutschen begegneten sich als das glücklichste Volk der Erde – nach der mannigfachen Projizierung der jahrzehntelang aufgestauten Träume, Wünsche und Hoffnungen auf die Zukunft in einem geeinten und freien Deutschland wurde von den meisten kaum weniger als das Paradies auf Erden erwartet. Erst der Alltag in Ost und West hat uns klargemacht, dass es bei weitem nicht reicht, in Erinnerungen und Erwartungen zu schwelgen und bestehende, absehbare Schwierigkeiten herunterzuspielen. Wir verstehen uns zwar in vielem durchaus besser als in den vorangegangenen dreißig Jahren seit dem Mauerfall, aber noch lange nicht so, wie sich ein Volk verstehen sollte. Wir müssen uns also weiterhin noch aufmerksamer zuhören, mit Herz und Verstand. Dann wird aus einem starken Stück Geschichte auch endlich eine richtig gute.

Matthias Bartsch, Lichtenau