„Eine völlig verrückte Idee“

Zu groß, im toten Raum, an den Bedürfnissen der Stadt vorbei: Michael Cramer, Verkehrsexperte der Grünen, hält den Hauptbahnhof für eine gigantische Fehlplanung. Die Bahn ignoriere die Politik

INTERVIEW ULRICH SCHULTE

taz: Herr Cramer, bitte finden Sie drei Gründe, den neuen Hauptbahnhof zu loben.

Michael Cramer: Du liebe Güte. Also, die Verklappung der Bügelbauten ist eine ingenieurtechnische Meisterleistung. Der Bahnhof ist ästhetisch gut gelungen … hm. Mehr fällt mir nicht ein.

Die über 600 Millionen Euro teure Luxusstation ist bestens auf verkehrliche Aspekte vorbereitet, zum Beispiel.

Auch wenn er unglaublich teuer ist – über seine Funktionalität muss man streiten. Es fehlt der Voll-Check-in für Airlines wie in Paddington Station in London, ebenso eine Fahrradstation, wie sie in Bern oder Münster erfolgreich betrieben wird. Der neue Zentralbahnhof ist ein Autofahrer-Bahnhof mitten in der Stadt mit vielen Parkplätzen. Er zieht – im Zusammenspiel mit dem Straßentunnel – Verkehr in die Innenstadt hinein, den der Senat eigentlich heraushalten will. Dafür fehlt eine gute Einbindung in den öffentlichen Nahverkehr.

Die Ursache dafür ist, dass der Bahnhof in einem toten Gebiet auf dem ehemaligen Mauerstreifen steht.

Einen Zentralbahnhof in eine dezentral aufgebaute Stadt wie Berlin zu stellen, ist eben eine völlig verrückte Idee. Leider konnten wir uns mit unserem Konzept Anfang der 90er nicht durchsetzen (siehe Kasten). Die Bahn hat ignoriert, dass Berlin eine Ansammlung von Großstädten ist.

Wie meinen Sie das?

Nur mal ein Vergleich: Der Grundriss Berlins würde – maßstabsgetreu auf einer Deutschlandkarte verschoben – fast das ganze Ruhrgebiet bedecken. Dorthinein einen Zentralbahnhof zu setzen, das ist ungefähr genauso intelligent, als ob man in Castrop-Rauxel einen Riesenbahnhof bauen würde – und dafür die Hauptbahnhöfe Essen, Dortmund und Bochum vom ICE-Verkehr abkoppelt. Einen Zentralbahnhof hätte man in Berlin leichter haben können.

Indem man einfach einen alten Bahnhof ausbaut?

Für 20 Millionen Mark hätten an der Friedrichstraße die Bahnsteige verlängert werden können, das wäre eine echte Alternative gewesen. Er liegt näher am Reichstag als der Lehrter Bahnhof, er ist ideal an U- und S-Bahn angebunden.

Aber ist die Anbindung des Hauptbahnhofs tatsächlich so schlecht? Über die Stadtbahn fährt die S-Bahn, im Süden geht die U 55 zur Fußball-WM in Betrieb, im Norden soll die S 21 fahren …

Es ist doch wohl das Letzte, die kleine Stummelstrecke der U 55 zum Brandenburger Tor als Erschließung zu verkaufen. Und die S 21 ist auf den St.-Nimmerleins-Tag verschoben. Noch nicht mal die Straßenbahnverlängerung ist fertig. Typisch Berlin eben. Größenwahnsinnig anfangen und dann undurchdacht umplanen. Nur mal ein Beispiel. Die S 21 wurde aus der Planfeststellung für den Zentralbahnhof gekippt – mit der Zustimmung des Senats unter Diepgen und Staffelt.

Mit welchen Folgen?

Die U 55 wurde vor dem Reichstag in offenen Baugruben gebaut, es wäre ein Einfaches – und nur unwesentlich teurer – gewesen, zweistöckig zu bauen, für die S-Bahn gleich mit. Das ging nach dieser Fehlentscheidung natürlich nicht mehr.

Am liebsten hätte die Bahn alle ICEs durch den Nord-Süd-Tunnel rauschen lassen, erst ganz am Schluss ist sie eingeknickt. Was von Westen kommt, fährt künftig auf der Stadtbahn und hält am Ostbahnhof. Warum das Hin und Her?

In ihrer eigenen Welt handelt die Bahn logisch. Es war abzusehen, dass sie den Bahnhof Zoo und den Ostbahnhof abkoppeln wird. Früher floss der Zugverkehr in Ost-West-Richtung mit den Bahnhöfen Zoo, Friedrichstraße und Ostbahnhof. Mit den Neubauten wurde die Durchbindung um 90 Grad gedreht, die wichtigen Stationen sind jetzt die Papestraße und der Hauptbahnhof. Gleichzeitig wurden vier Tunnelröhren gebaut – was völlig überdimensioniert ist.

Und das Röhrenquartett darf jetzt nicht leer stehen?

Richtig, die Bahn muss ihre überdimensionierte Infrastruktur rechtfertigen. Wer sich die Konzeption anschaut, merkt, dass die Stadtbahn eigentlich überflüssig ist: Von Berlin aus fahren die allermeisten Züge in Richtung Westen und Süden. Mit der Führung über Spandau, Nordring, Tunnel und Papestraße ist eine weite Kurve entstanden, die die Strecken verbindet.

Die Züge sind durch die Abkopplung des Bahnhofs Zoo schneller, sagt die Bahn.

Sie sparen 3 Minuten, effektiv sind die Fahrgäste 30 Minuten länger unterwegs – weil Westler vor der Abfahrt mitten in die Stadt müssen. Nur die Geschwindigkeitsfetischisten der Bahn freuen sich, für die Kunden zählt aber die Fahrtzeit von Tür zu Tür.

Aber Zoo taugt nicht für den Fernverkehr. Das Gebäude ist zu eng, die Bahnsteige sind an Stoßzeiten völlig überfüllt.

Natürlich ist das geradezu lebensgefährlich. Seit Jahren fordere ich die Bahn dazu auf, – gerade während der Bauzeit – in Spandau jeden Zug halten zu lassen. Ich wohne zum Beispiel in Halensee, ich könnte problemlos nach Spandau fahren. Tue ich aber nicht, weil ich fürchte, dass mein Zug dort durchrauscht. Also bevölkere ich den Bahnhof Zoo.

Nun sind Tunnel wie Zentralbahnhof fast fertig. Wie sollten die Züge optimal fahren?

Die Stadt braucht einen Mix: Regional- wie Fernverkehr müssen sowohl in den Tunnel als auch auf die Stadtbahn. Die Verkehrsplaner müssen den Tunnel für die S-Bahn freigeben. Die S 21 könnte man von der Yorckstraße aus hineinführen, im Norden würde sie wieder auf S-Bahn-Gleisen in Richtung Wedding oder Westhafen fahren.

Für die S-Bahn-Züge müsste in die Luxusröhre dann nochmal investiert werden.

Nur wenig, wenn man an zwei Tunnelgleisen die seitliche Stromschiene anbringt. Oder man kauft Mehr-System-Fahrzeuge. Die Triebwagen haben zwei Stromabnehmer, einen für die Oberleitung, einen für die Seitenschiene.

Die Bahn hat den Senat gelinkt, als sie den Bahnhof Zoo zum Regionalbahnhof degradiert hat. Sollte sich das Land nicht rächen?

Dafür wäre es höchste Zeit. Die Regionalverkehre oder die S-Bahn-Strecken müssten ausgeschrieben werden. Keiner zwingt das Land, mit der Bahn Verträge über 15 Jahre abzuschließen. Überall gilt die Regel: Wer bezahlt, bestimmt. Nur bei der Bahn ist es umgekehrt. Das Unternehmen befindet sich zu 100 Prozent in öffentlicher Hand, aber die hat nichts zu sagen.

Können Sie Beispiele nennen?

Der Bundestag beschließt, die Fahrradmitnahme in ICEs soll möglich sein, die Bahn setzt es einfach nicht um. Der Berliner Senat bestellt seit zehn Jahren einen Halt für alle Regionalzüge in Charlottenburg, die Bahn macht es nicht. Nö, das ist uns zu nah am Zoo, argumentieren die – bei einem Einzugsgebiet von 400.000 Menschen.

Der Senat sollte also schleunigst bei Connex, einer Privatbahn, anrufen?

Ich bin davon überzeugt: Sobald Connex ein entsprechendes Angebot macht und das ernsthaft geprüft wird, halten alle Züge wieder am Bahnhof Zoo. Man kann bei dem Thema zum Wettbewerbsfetischisten werden.