Vernarbte Erinnerung

Kenenisa Bekele hat sich von einem tragischen Schicksalsschlag erholt und seine Form wiedergefunden. Der äthiopische Fabelläufer gewinnt den WM-Stadionlauf über 25 Runden

„Wir müssen vorsichtig mit ihm sein. Er ist noch nicht der Alte.“(Jos Hermens, Managervon Kenenisa Bekele)

AUS HELSINKI FRANK KETTERER

Am Abend werden die Sieger präsentiert in Helsinki, und es handelt sich dabei fast immer um glückliche junge Menschen. Sie sitzen dann da in ihren knallbunten Trainingsanzügen. Das Lächeln weicht ihnen kaum mehr aus dem Gesicht und die Geschichten, die sie erzählen, sind fröhliche Geschichten von großen Wettkämpfen, Geschichten von Siegern eben.

Am späten Montagabend hat man auch Kenenisa Bekele auf das Podest der internationalen Pressekonferenz geführt. Auch er war Weltmeister geworden. Aber so richtig glücklich wirkte der junge Mann aus Äthiopien nicht, und auch sein Lächeln machte eher einen tapferen denn einen gelösten Eindruck. Bekele, der trotz seiner erst 23 Jahre als Olympiasieger und Titelverteidiger an den Start gegangen war, erzählte also von dem 10.000-Meter-Rennen, das er gerade vor seinem Landsmann Sileshi Sihine gewonnen hatte. Er berichtete, dass fast alles nach Plan gelaufen war in diesem Rennen, zumindest bis zur letzten Kurve, wo sich der Kenianer Moses Mosop noch auf Rang drei hatte schieben und damit den äthiopischen Dreifacherfolg verhindern können. „Da ist unsere Taktik nicht aufgegangen“, befand Bekele, der in seiner Heimat ja längst als Nachfolger des großen Haile Gebrselassie gilt und schon deshalb ein großer Star ist. Aber das sollte in der Pressekonferenz nebensächlich werden und keine wirkliche Bedeutung mehr haben. Denn dann erzählte Kenenisa Bekele, der junge Weltmeister aus Äthiopien, warum er sich nicht so ausgelassen über seinen erneuten Triumph freuen konnte wie all die anderen Sieger von Helsinki. Bekele sagte: „Alem war sehr wichtig für mich und ich vermisse sie. Ich liebe sie sehr.“ Es ist in diesem Moment sehr, sehr still geworden in dem großen Zelt am Stadion.

Die Geschichte von Kenenisa und Alem ist die traurigste, die es zu erzählen gibt von dieser Leichtathletik-WM in Helsinki. Er, der Olympiasieger und Weltmeister, und sie, 17 Jahre jung, das vielleicht größte Lauftalent ihres Landes, waren ein Paar, im Mai wollten sie heiraten. Aber dazu sollte es nicht kommen. Bei einem gemeinsamen Waldlauf brach Alem plötzlich zusammen. Kenenisa brachte seine Liebste ins Krankenhaus, doch die Ärzte konnten nur noch ihren Tod feststellen. Ihr junges Herz hatte versagt, einfach so. Die Tragödie trug sich im Januar zu.

„Ich habe eine schwere Zeit hinter mir“, sagte Kenenisa Bekele in Helsinki mit leiser Stimme, und man spürte, wie schwer es ihm fällt, darüber zu reden. Zumal ihm die Gebote seines Stammes die Trauerarbeit nicht erleichtert haben. Bekele, so war es vorgeschrieben, musste sich den Kopf scheren und einen Bart wachsen lassen. Das war kein Problem. Aber er durfte während der 40-tägigen Trauerzeit auch nicht laufen. Es ging nicht. Bekele musste laufen. Um verarbeiten, vielleicht sogar, um weiterleben zu können.

„Ich habe sie immer in meinem Herzen, vor allem beim Laufen“, sagt er. Aber die Sittenwächter seines Stammes verstanden das nicht, sie warfen ihm vor, er habe Alem, seine Liebe, schon nach wenigen Tagen vergessen. Bekele hat das sehr betroffen gemacht, so sehr, dass er sein Land vorübergehend verließ und in der Höhe des Läuferparadieses von Flagstaff/Colorado weiterlief.

„Es war seine Art, mit dem Schicksal zurechtzukommen“, sagt Jos Hermens, der sein Manager ist, aber auch sein väterlicher Freund. Und wie schwer das Bekele fiel, zeigte sich bei seinem ersten Wettkampf nach dem Unglück: Bei einem Hallenrennen sprintete der 23-Jährige eine Runde zu früh ins Ziel, das Interview danach brach er unter Tränen ab. „Ich war verwirrt, ängstlich und mit einem Herzen voller Trauer“, erinnert sich Kenenisa Bekele. Jos Hermens sagt, er habe sich zu dieser Zeit große Sorgen um seinen Freund gemacht. Hermens ist der Manager des Fabelläufers.

Die größten Sorgen verschwanden bei der Cross-WM Mitte März. Bekele gewann beide Titel, aber vor allem das Rennen über die Kurzstrecke war für Hermens ein Zeichen. „Als ich sah, wie er da auf den ersten 1.000 Metern kämpft, wusste ich: Kenenisa ist wieder da“, erinnert sich der Niederländer. Bekele sagte damals: „Ich habe zwei Gefühle in meinem Herzen: Freude und Trauer.“ Die Gefühle haben sich auch in Helsinki nicht verändert, man konnte das sehen.

Das Rennen am Montag war das einzige, das Bekele hier bestreitet, den Start über 5.000 Meter, wo er ebenfalls den Weltrekord hält, hat er abgesagt. Der äthiopische Verband hätte es zwar gern gesehen, wenn er auch die kürzere Distanz bestritten hätte, schon wegen der Medaillen. Aber Bekele hat nach Rücksprache mit seinem Manager anders entschieden. „Wir müssen vorsichtig mit ihm sein. Er ist noch nicht der Alte“, begründet Jos Hermens die Absage. „Ich bin müde und nicht ganz so gut vorbereitet“, sagt Kenenisa Bekele. Vor allem: Er ist ein junger Mann, der um die Liebe seines Lebens trauert.