BETTINA GAUS über FERNSEHEN
: Die Angst der Demütigen im Fernsehen

Man stelle sich vor: Moderatorin Bettina Rust interviewt Angela Merkel – eine echte TV-Sternstunde!

Was haben Angela Merkel und Bettina Rust gemeinsam? Offenbar vor allem eines: Angst. Beide erwecken außerdem den Eindruck, ausgerechnet auf das Mitgefühl jener zu setzen, von denen sie sich bedroht fühlen. Kann das gut gehen? Man wird abwarten müssen. Immerhin gibt es Erfahrungswerte: Bei Kaninchen und Schlange funktioniert die Methode nicht.

Goethes Zauberlehrling ist zu beneiden. Er hat einen Meister, der im rechten Augenblick die Geister bannt, die der Auszubildende gerufen hat. Im wirklichen Leben müssen Lehrlinge selber sehen, wie sie mit unkontrollierbaren Mächten zurechtkommen. Für Kanzlerkandidatinnen und Moderatorinnen gehören das Fernsehen und dessen Publikum dazu. Tückisch.

Vor allem deshalb, weil diese Mächte lange für gütige, mühelos lenkbare Geister gehalten wurden. Ganz leicht schien sich der Meisterbrief erwerben zu lassen. Nur um Präsenz ging es in den Kindertagen des Fernsehens und darum, möglichst viele Meldungen zu produzieren. Je häufiger jemand auf dem Bildschirm zu sehen war, desto erfolgreicher waren er oder sie.

Goldene Jugendzeit des Heimkinos, in der die Medienbeobachter der verschiedenen Parteien wenig mehr zu tun hatten als Sendeminuten zu zählen und sich zu beschweren, wenn die eigenen Leute 30 Sekunden kürzer als andere auf dem Schirm zu sehen waren. Inzwischen ist das Fernsehen erwachsen geworden. Auch die Zuschauer sind an der eigenen Langeweile gereift.

Einige Jahrzehnte nach den US-Amerikanern haben auch die Deutschen verstanden, dass es bei der vielzitierten Macht der Bilder nicht ausschließlich um die Frage geht, wie viele Bilder es überhaupt gibt. Sondern daneben darum, was jeweils darauf zu sehen ist. Das macht die Lehrjahre der Akteure kompliziert.

Die Auszubildende Angela Merkel scheint nun den Weg zu wählen, den auch viele andere Schülerinnen und Lehrlinge gehen: Wenn man so tut, als gebe es ein ungeliebtes Fach nicht, dann wird schon nichts passieren. Klassenarbeiten also lieber gar nicht erst mitschreiben. Das klappt allerdings meist nur bis zur Zeugnisvergabe. Prüfer und Personalchefs reagieren empfindlich, sobald jemand in der Uckermark gesehen wird, der laut Stundenplan eigentlich in Washington hätte sein sollen.

Zeitnot ist keine gute Ausrede. Auch nicht im Auswahlverfahren zwischen den aussichtsreichsten Kandidaten für einen Job. Es klingt wenig überzeugend, wenn man sagt, man habe Wichtigeres zu tun als an einem Bewerbungsgespräch teilzunehmen.

Bettina Rust, deren Schulzeit kürzer zurückliegt als die von Angela Merkel, geht direkter auf ihr Ziel los. Sie wanzt sich bei denen an, die über ihre Zukunft – mutmaßlich – entscheiden. Früher vermutlich bei den Lehrern, heute beim Publikum ihrer Talkshow auf Sat.1. Keinesfalls will sie klüger erscheinen als noch der dümmste ihrer Zuschauer. Deshalb betont sie, dass sie Fremdwörter erst nachschlagen muss, bevor sie sie benutzt. Das ist ein schöner Anfang.

Aber wird das genügen, um den Job behalten zu dürfen? Wer weiß. Denn sie sieht ihre Personalchefs erkennbar nicht nur im Publikum, sondern zugleich in ihren – potenziellen – Gästen. Der Zeit-Chefredakteur müsse sich ja seine Antwort gut überlegen, wenn er auch künftig Interviews mit Angela Merkel führen wolle, sagt Bettina Rust zu Giovanni di Lorenzo. Ironiefrei. Dem bleibt – kurz – die Spucke weg. Und die Öffentlichkeit gewinnt innerhalb von Sekunden einen erschütternd tiefen Einblick in das Selbstverständnis von Fernsehschaffenden.

Eine Talkshow zwischen Merkel und Rust müsste eine Sternstunde des Fernsehens sein. Zwei tief gebückte Männer, „einander in höherer Stellung vermutend“: dieses Bild von George Grosz definierte eine Epoche. Zwei zitternde Frauen in derselben Pose – was für eine Beschreibung des Fortschritts. Vielleicht könnte eine solche Sendung das Ende der seltsamen Debatte um die Frage einläuten, ob eine Frau grundsätzlich als Regierungschefin geeignet ist. Und endlich den Blick darauf lenken, dass es auch darum geht: welche Frau.

Fragen zur Angst? kolumne@taz.de Morgen: Albert Hefele belauscht Frau Merkle