berliner szenen
: Die Rose und die Nachtigall

Wer riecht hier nach Rosen?“, fragen wir, als wir die Hermannstraße hochlaufen. Anna, an der Spitze der Gruppe, hebt die Hand. „Ich“, sagt sie und erzählt, dass sie das Rosenöl in Marokko gekauft und nur ein paar Tropfen davon benutzt hat. Sie habe nicht gewusst, dass das Öl so stark dufte. Später, in der Kneipe wechseln wir uns ab, um das Parfum hinter ihren Ohren und an ihren Handgelenken zu riechen. „Das duftet so gut!“, sagen wir immer wieder, und sie bedankt sich. Als Kind habe sie in einem Haus mit einem Rosengarten vor der Tür gewohnt, erzählt sie. Der Duft sei für sie der Geruch ihrer Kindheit.

Jemand fragt Anna, ob die Rosen rot waren und erzählt ein Märchen, das von einer Nachtigall handelt. Die hilft einem jungen Mann, eine rote Rose zu besorgen,damit er seine Geliebte zum Ball begleiten darf. Die Nachtigall opfert sich dafür und stirbt. Die Frau findet in der Zwischenzeit eine andere Begleitung zum Tanzen und sagt dem verzweifelten Verehrer einfach ab. So endet die Geschichte. Und wir sind enttäuscht: kein Happy End.

Neulich entdeckte Anna einen Rosengarten im Park am Humboldthain, erzählt sie plötzlich. Es war an einem Tag, an dem es gleichzeitig regnete und die Sonne schien. Sie wäre mit jemandem da gewesen, der ihr sehr wichtig sei. Sie zeigt uns ein Bild auf Instagram. Das Licht ist fabelhaft und der Park, in dem noch niemand von uns war, scheint auch sehr schön zu sein. Nur die wichtige Person ist nicht zu sehen. Wir fragen Anna lieber nicht, wer sie war. Und was sie mit der Geschichte der Nachtigall zu tun haben könnte.

Luciana Ferrando